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Hexengericht

Hexengericht

Titel: Hexengericht
Autoren: Stefan Fandrey
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etwas.«
    Luna war völlig verändert. Ihr Gesicht rötete sich, ihre Augen glänzten wieder. Gierig schlang sie die Suppe hinunter. Mit vollen Backen strahlte sie ihre Mutter an. Und solche Momente waren es, die Anne die Kraft gaben, an den schwarzen Tagen zu bestehen. Momente, in denen tiefstes Leid zu höchstem Glück wurde.
    Luna reichte ihrer Mutter die Schale, sprang aus dem Bett, zog ihr erdfarbenes Hemdkleid über und lief laut lachend aus dem Haus.
    Anne hielt kurz inne, um dann ihre Arbeit an den Körben fortzusetzen. Ihre erfahrenen Hände vollführten die Arbeit selbstständig. In die Stadt ging sie nur selten, und wenn sie Weidenruten für die Körbe brauchte, Dinkel, Erbsen, Bohnen und Kräuter für den Eintopf, Leinen für Kleider, die sie selbst nähte, dann machte sie sich immer allein auf den Weg nach Rouen. Das Leben in der Stadt war nichts für Luna. Betrunkene Spießgesellen, anrüchige, leicht bekleidete Huren, grobschlächtige Kesselflicker, die willkürlichen Methoden des Landvogts, das alles wollte sie Luna ersparen.
    Es klopfte. »Anne, bist du da? Hier ist Jean.«
    Schnell wischte Anne ihre feuchten Hände an ihrer Schürze ab und eilte zur Tür. Das gutmütige runde Gesicht Jean Brillons lächelte sie an. »Guten Morgen, Jean«, sagte sie. »Komm herein.«
    »Einen wunderschönen guten Morgen auch dir, Anne«, sagte Jean.
    »Wie geht es Lisette?«, fragte Anne.
    »Hervorragend«, antwortete Jean. »Sie lässt dir schöne Grüße bestellen und fragt, ob du noch etwas von deinem himmlischen Dinkeleintopf hast.«
    Belustigt musterte Anne den dicken Bauch ihres Nachbarn und Freundes. »Ist Lisette an meinen Kochkünsten interessiert oder ist es allein dein Magen, Jean?«
    Ertappt rieb Jean über sein fleischiges Kinn.
    Anne lachte auf. »Für dich habe ich immer eine Schüssel übrig.«
    Jean Brillon grinste und setzte sich, mit der Zunge schnalzend, an den Tisch. Gierig schlürfte er das einfache, doch delikate Mahl hinunter. Dabei sah er sich um. »Du musst dir endlich einen Mann suchen, Anne. Das Haus und das Kind brauchen eine starke Hand. Yves Rénards Frau ist letztes Jahr gestorben. Er ist der wohlhabendste Bauer in dieser Gegend und würde gut für dich und Luna sorgen.«
    »Yves Rénard ist vierundsechzig Jahre alt, Jean«, wandte Anne ein. Sie verspürte nicht das geringste Verlangen, über mögliche Ehemänner zu sprechen.
    »Aber …«, begann Jean. Doch Annes strenger Blick hieß ihn schweigen.
    »Sieben Körbe sind fertig«, sagte Anne. »Die restlichen fünf bekommst du in ein paar Tagen.«
    Betrübt senkte Jean den Kopf. Er legte den Löffel aus der Hand. »Es tut mir Leid, Anne. Aber ich kann dir die Körbe nicht abnehmen.«
    »Ich … ich verstehe nicht«, stammelte Anne. Sie brauchte die wenigen Sous zum Überleben.
    »Die Zeiten sind schlecht«, erklärte Jean. »Die Ernte ist jämmerlich ausgefallen.«
    Anne schwieg. Sie war zu stolz, um über ihre missliche Lage zu klagen.
    »Ich wünschte, ich hätte eine bessere Nachricht für dich, Anne«, sagte Jean und stand auf.
    »Es ist gut. Ich bringe dich zur Tür.«
    Gemeinsam traten sie auf den schlammigen Vorhof hinaus. Luna machte gerade einen wackligen Handstand.
    »Schau, Maman!«
    »Das machst du sehr gut, mein Engel!«, rief Anne.
    »Ach!«, entfuhr es Jean. »Luna, mein liebes Kind, ich habe da etwas für dich.«
    Unsanft plumpste Luna auf den Bauch, rappelte sich wieder hoch und lief neugierig zu Jean. »Was ist es, Onkel Jean?«
    Brillon öffnete seine große Ledertasche. Behutsam holte er eine lange Rabenfeder hervor. »Da, schau! Es ist eine Schwanzfeder. Die findet man nicht überall.«
    In diesem Augenblick ging eine schreckliche Veränderung mit Luna vor. Sie schrie aus Leibeskräften. Sie schrie, als ramme ein unsichtbarer Dämon ihr glühende Nadeln in den Schädel. Dann musste sie sich übergeben.
    »Oh, mein Gott!«, rief Jean aus. »Geht es wieder los, Anne? Ist es wieder so weit?«
    Anne achtete nicht auf Jean, sondern stürzte zu ihrer Tochter. Gerade noch rechtzeitig, um sie zu halten.
    »Maman!«, brüllte Luna. »Ein Rabe kommt. Ein Rabe, schwärzer als die Nacht!«
    »Beruhige dich, mein Engel«, flüsterte Anne und strich Luna über die eiskalte Stirn. Zu Jean gewandt, sagte sie: »Geh, Jean! Geh und grüß Lisette von mir.«
    Verunsichert stolperte Brillon davon, hin und wieder einen Blick über die Schulter zurückwerfend.
    Lunas Augen waren in weite Ferne gerichtet. Anne wusste nicht einmal zu
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