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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt
Autoren: Walter Kempowski
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Bürgermeister. Erst dem Pastor, dann dem Bürgermeister. Auf so was schauten die Leute. Das sei hier eben noch so, das müsse man akzeptieren. Bauern seien erzkonservativ.

    «Auf Klein-Wense können Sie sich freuen!»wurde gesagt.«Wer weiß, vielleicht sind Sie am Ende dann auch dreißig Jahre dort? Wie Kollege Schmauch?»- Klein-Wense sei ein nettes kleines Dorf mit uralten Häusern – auch landschaftsmäßig, das Eischetal, das Glumm und der Sassenholzer Wald. Aber bevor man mit den Kindern in den Wald geht, eben noch mal schnell den Wandererlaß ansehen, das empfehle er dringend, und vorher abschreiten die Tour, damit keinem Schüler durch herunterhängende Zweige ein Auge ausgestochen wird womöglich. Im Sassenholzer Wald sei übrigens vor kurzem ein prähistorischer Backofen entdeckt worden, Kollege Jagels habe davon eine Nachbildung angefertigt mit seinen Schülern, eins zu hundert, und dem Heimatmuseum übergeben. Das sich mal angucken, unbedingt. Schon allein des Kollegen wegen, der sich solche Mühe gegeben habe damit. Pädagogik im Allroundsinne, jederzeit und überall.

    In Klein-Wense wohne übrigens die Tochter von von Kallroy, dem berühmten Maler -«Sie wissen doch, Ernst Werner von Kallroy, der immer diese in die Länge gezogenen Jünglinge gemalt hat… Münchner Schule… In jeder Kunstgeschichte drin. Von den Nazis ins KZ gesteckt? Nein, wissen Sie nicht?»Und da er gerade bei der Malerei war, wies er auf das Sputnikbild seiner Tochter – an sich untypisch für Mädchen, so etwas zu malen…
    «Sehen Sie mal, dies hat meine Tochter gemalt…», sagte er. Es wundere ihn, mit welcher Sicherheit ein so kleines Mädchen die Proportionen verteile auf dem Papier, nicht etwa alles links unten in die Ecke zusammengedrückt, nein, frei und harmonisch auf dem Blatt verteilt, und alles ganz korrekt wiedergegeben, Antenne und Sichtfenster und so weiter und so fort, et cetera p.p., derartig korrekt, wie er selbst es niemals schaffen würde, er selbst wisse gar nicht, wie ein Sputnik überhaupt aussieht. – Er wies mit seiner kriegsbeschädigten Hand besonders auf die Rundform des Sputniks hin. Der eine male eben gern rund, der andere eckig und der dritte mehr das, was länglich ist.
    «Chacun à son goüt, wie ich immer sage.»

    Matthias ließ vor Bewunderung erneut die Augen aus den Höhlungen treten und sagte, er komme sich jetzt auch wie dieser Sputnik vor, der in den schwerelosen Raum geschossen wird, ins kalte Weltall, und ihm werde bange, wenn er an die Anforderungen denke, die jetzt das Leben an ihn stelle. Wenn die Kinder nun zum Beispiel nicht annähmen, was er ihnen aus vollem Herzen schenken wolle? Dann stehe man da mit seinem guten Willen…
    Und siehe da, die Prise Wohlwollen auf der Schulratswaage häufte sich zu einem kleinen Kegel. Das war ja ganz außerordentlich, was er hier heute zu hören kriegte… Es fehlte nicht viel, und«Egon»hätte dem jungen Mann die Hand auf die Schulter gelegt.

    Eben denke er -«attention!»-, ob Matthias sich nicht eine größere Aufgabe zutraue? sagte er: Ihm falle gerade ein: Ob er nicht Klein-Wense sausen lassen wolle, kurz und trocken, und gleich hier in Kreuzthal anfange! Manchmal müsse man den gordischen Knoten zerschneiden, wenigstens in einer Richtung… Noch sei es Zeit… Ein einziges Telefongespräch mit dem Regierungsschulrat, und die Sache sei geritzt? – Auf dem Dorf sei man eben doch oft sehr einsam, die Bauern stur und die Kinder einfältig, und keine Anregung! Hier in Kreuzthal gäb’s eine richtige Buchhandlung und einen gemischten Chor, Pastoren, Ärzte, Apotheke und so weiter… In der Hermann-Sulzberg-Schule hier gleich nebenan wär der Sportlehrer gerade gegangen, wär das nicht was? Den gesamten Sportunterricht der Schule übernehmen und dazu dann noch Musik? Stadtkinder seien doch ein ganz anderes Material? Und sich nebenbei aufs höhere Lehramt vorbereiten? Von hinten durch die kalte Küche? Studienrat werden? Peu à peu? Eine Wohnung werde sich hier schon finden, er glaube, die Hälfte der Hausmeisterwohnung stände leer, unterm Dach, zwei Mansarden. Wär das nicht was? Noch lasse sich das deichseln? – Der Hausmeister ein ganz verträglicher Mensch, mit Schwächen behaftet natürlich, mit menschlichen Schwächen.

    Er griff zum Telefonhörer, trat dann aber doch erst mal ans Fenster und lud Matthias ein, sich die Schule da drüben anzusehen und zu prüfen, ob das nicht was wär?
    Sie blickten beide am Außenthermometer
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