Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt
Autoren: Walter Kempowski
Vom Netzwerk:
vorbei, hinunter auf die vier eingegitterten Linden, die auf dem windverwehten Schulhof standen, an jeder ein Starenkasten, und der Schulrat wischte seine Brille mit dem Schlips sauber, damit er es besser sehen kann, was das für eine famose Schule ist. So manchen Blick riskierte er auf diesen Hof des gemischten Gymnasiums, morgens halb zehn, die große Pause, in der sich Mädel und Buben bis zum Balgen hin haschten?

    Matthias schwammen die Felle weg – Sport! Das hatte ihm grade noch gefehlt! – Heu aufstaken und jauchzend in den Wald laufen, das war es, was er sich vorgestellt hatte, aber doch nicht Ristgriff mit Aushänge-Unterschwung zum Stand? Hatte er dafür das Unterstufenseminar von Petersen mitgemacht, um seine Tage im Trainingsanzug hinzubringen, mit Trillerpfeife um den Hals? In einer nach Schweiß riechenden Behelfsturnhalle? Und: Kanons singen zu lassen?«Laßt doch der Jugend, der Jugend, der Jugend ihren Lauf…»?
    Er versteifte sich, er machte es, daß von seinem Körper Ablehnung ausging. Ohne daß er ein Wort gesagt hätte, kapierte der Schulrat, daß er hier auf Granit gebissen hatte.

    Dann eben nicht! Dann eben die Zukunft verspielen, sausen lassen alles, was eine Stadt zu bieten hat, und auf eine Karriere verzichten, die bis wer weiß wohin geführt hätte? Bis in die Schulaufsichtsbehörde hinein? Wer könne das denn wissen? – Er händigte dem jungen Mann ein kostenloses Exemplar des Grundgesetzes aus, mit vergoldetem Adler auf dem Umschlag, sowie die Rahmenrichtlinien für den Unterricht. Dann gab er ihm die Hand, und er vermerkte es in der Akte, daß hier ein Junglehrer, geboren 1930, ordnungsgemäß eingewiesen sei in die bis zum nächsten Jahr vertretungsweise zu besetzende Stelle an der einklassigen Schule in Klein-Wense, vertretungsweise, wodurch man ein Jahr lang den Zuschlag sparte für den«Ersten Lehrer», fünfzehn Mark pro Monat durch einen solchen Schachzug immerhin.

    An der Tür dann noch: Dumm, zu dumm, daß er sich nicht für die Hermann-Sulzbach-Schule entscheiden könne – an einer größeren Schule gäb’s doch ganz andere Chancen, Fachberater für Sport könne er werden, den Turnverein leiten und sich ins höhere Lehramt hineinschieben, wenn kein andrer da ist, der das tun will? Vielleicht sogar Konrektor werden und so weiter und so fort? Als Turnlehrer habe man ja auch die Kinder ganz anders in der Hand, Disziplinschwierigkeiten gäb’s da keine.
    Außerdem, das müsse er ihm noch eben sagen, in Klein-Wense trete er ein schweres Erbe an, der pensionierte Kollege dort, zwar ein guter Lehrer, aber zeitlebens eigentlich immer betrunken; so und so oft schärfstens gerügt…
    Na ja,«Chacun, wie ich immer sage, nach seinem Geschmack»- und damit war die Sache vom Tisch.

    Anschließend gab der Schulrat dem jungen Menschen, der hier soeben die Chance seine Lebens ausgeschlagen hatte, noch einen gereimten Rat mit auf den Weg:«Zuviel zu tun ist schädlich/zu wenig tödlich!»Auf so mancher Lehrerversammlung hatte er diese Maxime schon verlauten lassen, und alle waren gut damit gefahren.

3

    D em Schulamt gegenüber befand sich ein Zeitungsladen mit heraushängender Lottofahne. Vom Wind wurden Magazinschönheiten aufgeflattert. FLORIDA! Nackt und schön, von Sonne umschmeichelt!
    Der Lottomann kam heraus aus seinem Laden, als er den jungen Mann mit seinem Fahrrad sah, und legte gußeiserne Reklamestäbe auf die Zeitungen, und dann erklärte er ihm einigermaßen freundlich, wie man nach Klein-Wense kommt, und machte ihn auf eine Abkürzung aufmerksam, die sehr angenehm zu fahren sei. An einer alten Mühle gehe es links ab und dann immer geradeaus. Matthias folgte dem Mann in den nach Tabak und Pfefferminzpastillen riechenden Laden und kaufte sich ein Notizbuch: ein neuer Lebensabschnitt war schon ein neues Notizbuch wert.«Wo kommen Sie her?»fragte der Lottomann, auf Barras-Geschichten hoffend oder:«Egerländer halt’s zusamma…», auf Heimat.
    Wo kommt man schon her!
    Matthias sagte, er wolle in Klein-Wense einen neuen Anfang machen mit seinem Leben, er habe allerhand Pech gehabt, Brücken hinter sich abgebrochen, und: Kindern das Lesen und Schreiben beibringen, was könnt’ es Schöneres geben?
    «Gar nicht so dumm», sagte der Mann.«Da kriegen Sie jedenfalls sofort’ne Wohnung und später Pension.»

    Der Schulrat ließ oben am Fenster die Gardine fallen, und Matthias fuhr die enge Hauptstraße hinunter in die Stadt hinein. Früher hatten hier Linden gestanden,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher