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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt
Autoren: Walter Kempowski
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war nicht dagewesen.
    Später hatte er drüben im Lazarett gelegen, in Thüringen, dort war ihm von Schwester Gertrud mit gefälschten Blutwerten das Leben gerettet worden, zu Fuß dann, als die Russen kamen, allein nach Hause getippelt.«Ich hol’ dich nach…», hatte er zu ihr gesagt. Ja, er hatte sie nachholen wollen, die Krankenschwester mit dem leichten Silberblick, aber das hatte sich dann irgendwie zerschlagen.

    Der Schulrat zog einen gebrauchten Schnellhefter aus dem Schreibtisch, strich den Namen des soeben pensionierten Kollegen durch und schrieb den neuen drauf: ein neuer Akt, ein neues Leben. Kollege Schmauch, den Matthias jetzt ablöse, sei lange in russischer Gefangenschaft gewesen, deshalb wohl dessen fatale Neigung zum Alkohol.
    Ein guter Lehrer, aber ein Trinker, leider.

    Ihm selbst sei Gefangenschaft ja glücklicherweise erspart geblieben, sagte er und dachte noch ein wenig an Schwester Gertrud, die seine Blutwerte gefälscht hatte, obwohl der Oberarzt von Tag zu Tag aufmerksamer auf die Krankenkarte geguckt hatte, das tapfere Mädel. Kopf und Kragen für ihn riskiert, nur damit er nicht wieder an die Front mußte! Und dann hatte er rechtzeitig die Kurve gekratzt, als die Amerikaner abrückten und die Russen kamen, allein, ohne sie. Einen siebten Sinn und eine achte Nase hatte er gehabt, und es hatte schließlich alles noch ein gutes Ende genommen.
    Er stellte einen Tischwecker hinter Matthias auf das Bücherbord, damit er jederzeit im Bilde ist, wie lange er sich mit diesem jungen Mann hier befaßt, einem Menschen, der sich offenbar im Leben noch nichts versucht hatte, abgesehen von einem unfreiwilligen Aufenthalt in einem Gefängnis des Unrechtsstaats da drüben, über den jedoch eine ehrenrettende Bescheinigung vorlag, auch die Erste-Hilfe-Prüfung beim Roten Kreuz und das Vorhandensein eines Befähigungsausweises zum Vorführen von Filmen machten einen guten Eindruck.
    «Unsere jungen Damen haben ein gestörtes Verhältnis zur Technik…», sagte er. Es sei schon vorgekommen, daß sie den gerissenen Film mit Büroklammern zusammengesteckt hätten. In der Kreisbildstelle gäb’s eine ganze Sammlung solcher Untaten.
    Die Religionsfakultas, auf allerletzten Drücker noch erworben, vervollständigte den positiven Eindruck, den man nach und nach von diesem Menschen hier gewann, ohne Gott gehe es nun einmal nicht, und wie sollte wohl der Rahmen aussehen, in dem Erziehung sich verwirkliche, wenn nicht im Christentum?«Pädagogik ist ein schwieriges Geschäft!»

    «War Ihr Herr Vater Pastor?»fragte der Schulrat und durchraschelte mit der kriegsversehrten Hand die Papiere, die er nun der Reihe nach in den Schnellhefter einordnete. Geburtsurkunde, Abitur und Examenszeugnis, Gesundheitsattest und polizeiliches Führungszeugnis, er lochte die Bescheinigungen und heftete sie ein. Ein Mann gleichen Namens sei Fähnrich in seiner Kompanie gewesen, ein guter Kamerad, Theologiestudent, natürlich sofort gefallen, wie all die jungen Studenten, idealistisch bis dort hinaus… Obwohl Matthias mit diesem Mann nicht verwandt war, sicherten ihm Namensgleichheit mit einem prachtvollen Menschen und die Religionsfakultas eine erste Portion Wohlwollen seines Vorgesetzten, der jetzt damit begann, Kleingeld aus der Jackentasche zu sammeln, es zu sortieren und zu einem Turm zu fügen. Er mochte dabei an einen heißen Sommertag denken, an dem er in Frankreich aus dem Fenster der Dienstbaracke gesprungen war, hintenraus, weil Resistanceleute auf der Straße mit einer Maschinenpistole herumschossen. Er fragte Matthias, ob er eigentlich wisse, wieviel Theologiestudenten im letzten Krieg gefallen sind. Er meine, rein numerisch.«Blutzoll»und«zur Ader lassen», diese Worte fielen.

    Ohne Zweifel hatte dieser junge Mensch eine glänzende Volksschullehrerkarriere vor sich. -«Stichnoth»hingegen, wenn einer schon Stichnoth heißt, wie der junge Kollege aus Hildesheim zum Beispiel, der jetzt auch grade anfängt, auf dem zweiten Bildungsweg herangerobbt, zunächst Schlosser, dann Polizist, und sich nun ein ruhiges Leben auf dem Lande erhofft – eben ist er zur Türe hinaus… dann schwant einem schon nichts Gutes. Leute, die Stichnoth heißen, tun sich in der Gewerkschaft hervor, und die verweigern das Wort«Gott»in der Eidesformel. Merkwürdig, aber auch anerkennenswert, hier vor seinem Vorgesetzten das Wort«Gott»zurückzuweisen und statt dessen mit einem Vakuum vorliebzunehmen.
    Menschen, die das Wort«Gott»verweigern,
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