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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt
Autoren: Walter Kempowski
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auch wieder nicht! Locker sein, natürlich, und ruhig den Hasen auch mal laufen lassen, wie er läuft… Wenn so etwas passieren sollte, daß er mal eine Ohrfeige austeilt, die berühmte Ohrfeige zur rechten Zeit zum Beispiel!, dann ihn am besten gleich anrufen, dann gäbe es keine Weiterungen.
    «So was kann man dann telefonisch irgendwie ausbalancieren… »

    Das eben noch erblühte Wohlwollen des Schulrats fiel rasch in sich zusammen, als Matthias auf die Besoldung zu sprechen kam, ob er für den Monat April nicht noch irgendwie ein Gehalt kriegen kann, es ist schließlich erst der neunundzwanzigste? Er sei nämlich absolut blank… Ob sich das nicht deichseln läßt? Unter der Hand?

    Deichseln? Was war denn das für ein Wort! und:«Unter der Hand»? Da war sie wieder, diese Geldgier, das Berechnende, Unkorrekte, das es früher so gar nicht gegeben hatte. Hier demaskierte sich Egoismus, wo ein Sich-Einsetzen für das große Ganze geboten war. Oder kam hier gar was Ostzonales zum Vorschein? Was Östliches? Damals die Flüchtlinge, die ihm den letzten Koffer gestohlen hatten, auf dem Bahnhof zu Reiferscheidt? Und nun kam ihm hier ein junger Mensch mit Gelddingen. – Schade. Und: Mein Gott! Er habe nach dem Krieg für ein Gehalt zwei Schulen leiten müssen, ob Matthias sich das vorstellen könne?, morgens 89 Schüler in Woltersen und mittags mit dem Fahrrad nach Steddorf hinüberfahren bei Wind und Wetter, und dort dann nochmals 80 Schüler verarzten! Achtzig strahlende Augenpaare! Und das mit Steckrübenscheiben auf Brot statt Wurst, und die Bauernkinder aßen Schmalzstullen! Daß zu dieser Zeit der Stock regiert hatte, behielt er für sich, an stramm gezogene Hosen mußte er denken und auch an Röcke, aus denen dann Staub aufstieg…
    Er packte die Groschen, die er da vor sich zu einem Turm aufgeschichtet hatte, ein und holte aus dem Soennecken-Rollschrank ein in schwarzes Kaliko gebundenes Heft hervor, in das er so manches Erinnernswerte eingetragen hatte aus seinem Pädagogenleben. Er blätterte es auf und blickte einen Augenblick versonnen hinein und schickte sich an, daraus vorzulesen. Aber er tat’s dann doch nicht – nein, das jetzt nicht. Das würde Unverständnis hervorrufen, auch hier mußte Abstand gewahrt werden… und er stellte das Heft wieder in den Schrank, direkt neben die ergänzbare Sammlung des Schulrechts, deren Nachträge verdammt oft kamen, schwierig einzuordnen waren und jedesmal neunundsechzig Mark kosteten.

    Wenn er es recht bedenke, sei die Zeit nach dem Krieg im Grunde eigentlich die schönste Zeit gewesen, sagte er und ließ Sonnenschein über sein Gesicht gleiten. Zwar nagenden Hunger und eiskalt in der Klasse… Aber doch auch glücklich irgendwie. Kinder seien ja oft ganz lustig. Urlaub allerdings -«Jetzt fahren die Kollegen ja alle nach Tunesien»… -, Urlaub habe es damals nicht gegeben. Eine unselige Entwicklung. Die Ferien habe man in Balkonien oder Bad Meingarten verlebt, genug zu tun mit Haus, Hof und Vieh. Er wisse noch, wie er mal als junger Lehrer mit seiner Frau ein Wochenende per Fahrrad an die Nordsee gefahren sei!

    Nein, ein Gehalt für den nahezu abgelaufenen Monat gäbe es nicht, und schon gar nicht unter der Hand! Aber wenn er ihm irgendwie aushelfen könne,…? (er griff zu seiner Brieftasche) – Nein? Und weil das so gütig war von ihm, hier ganz schlicht zur Brieftasche zu greifen:«Du brauchst und ich gebe…»und einen so guten Eindruck machte, der sich sicherlich unter den jungen Leuten herumsprechen würde, fand er doch zu Wohlwollen zurück, das einem Vorgesetzten ja schließlich besser zu Gesichte steht als Strenge.

    Zum Schluß beglückwünschte der Schulrat den jungen Mann, er freue sich besonders darüber, daß er nach Klein-Wense komme, Kollege Schmauch sei über dreißig Jahre dort gewesen, im schönen Eischetal gelegen, zwölf Kilometer südlich von Kreuzthal.
    Auf der Landkarte des Regierungsbezirks, die an der Wand hing, war der Ort leicht auszumachen. Wie neben allen Schulorten des Kreises befand sich auch neben Klein-Wense ein Zeigefinger-Fettfleck. Nette Leute wohnten in Klein-Wense, nie Schwierigkeiten gehabt mit der Gemeinde. Und daran nun auch ja nicht rühren! Keine Neuerungen einführen, alles hübsch so lassen, wie es ist, nicht als neuer Besen auskehren wollen irgendwas. Bauern sind konservativ, die werden mißtrauisch, wenn man die gewohnten Pfade verläßt. Und ja nicht vergessen, dem Pastor einen Besuch abzustatten! Und dem
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