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Die Legenden der Vaeter

Die Legenden der Vaeter

Titel: Die Legenden der Vaeter
Autoren: Kolja Mensing
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    |5| D raußen ist es längst Nacht. Die anderen haben sich tief in ihre Decken gehüllt, jemand hustet im Schlaf. Der junge Mann greift nach dem angebrochenen Päckchen mit den Zigaretten, das auf dem schmalen Ablagebrett unter dem Fenster liegt. Über der Tür des Zugabteils brennt eine Lampe, und sein Gesicht spiegelt sich in der dunklen Scheibe, über die der Regen feine Linien zieht. Józef Koźlik ist vierundzwanzig Jahre alt, doch er hat das weiche, blasse Gesicht eines kleinen Jungen. Selbst nach zwei Tagen im Zug sind auf seinen Wangen und rund um das Grübchen auf dem Kinn kaum Bartstoppeln zu erkennen. Erst die Zigarette macht ihn älter. Eine dunkle Haarsträhne fällt ihm ins Gesicht, als er sich vorbeugt, dem brennenden Streichholz entgegen. Józef kneift die Augen zusammen und zieht den Rauch tief in die Lungen.
    Es ist kalt im Abteil. Er wickelt sich fester in die Wolldecke, die ihm ein Mitarbeiter der Militärmission beim letzten Halt in die Hand gedrückt hat, zusammen mit einem Becher lauwarmem Tee. Acht Stunden hatten sie in Lübeck auf dem Bahnhof gestanden, ohne aussteigen zu dürfen, vierhundert Männer in zwölf Waggons, bis die Verbindungsoffiziere vom polnischen Konsulat noch einmal sämtliche Papiere durchgegangen waren und den Zug zur Weiterfahrt nach Stettin freigegeben hatten. Es ist einer der letzten |6| Transporte mit polnischen Soldaten, die aus Deutschland in ihre Heimat zurückkehren. Sie haben eine Wochenration Lebensmittel aus den Beständen der britischen Armee mit auf den Weg bekommen, englische Militärpolizisten mit weißen Handschuhen und einem Revolver am Gürtel hatten den Zug bis zur Zonengrenze begleitet.
    Die Polen tragen Zivil. Es wird schon lange nicht mehr gekämpft. Die meisten Soldaten waren in den ersten beiden Jahren nach dem Krieg zurückgegangen, zusammen mit den ehemaligen Zwangsarbeitern und Häftlingen aus den befreiten Lagern. Jetzt, im Dezember 1949, sitzen nur noch diejenigen im Zug, die keine Wahl haben, Schieber, die nach dem Krieg ein Vermögen gemacht haben, um es über Nacht wieder zu verlieren, gescheiterte Abenteurer, die sich durch das zerstörte Europa hatten treiben lassen, bis ihr Heimweh so groß war, dass sie sich trotz der beunruhigenden Nachrichten aus Polen zuletzt doch noch in die Rückreiselisten der Militärmission eintrugen. Es riecht nach Enttäuschung und Verzweiflung in den Abteilen und nach Angst. Keiner der Soldaten weiß genau, was sie in Stettin erwartet, der Stadt, die vor dem Krieg zu Deutschland gehörte und jetzt ein polnischer Grenzort ist und Szczecin heißt.
    Józef ist auf dem Weg nach Steblau, einem Dorf in Oberschlesien. Dort lebt seine Mutter. Vor fünf Jahren hatte er sie das letzte Mal gesehen, kurz nachdem sein Vater mitten im Krieg gestorben war. Er zieht ein letztes Mal an der Zigarette, dann drückt er sie vorsichtig unter der hölzernen Sitzbank aus und wirft einen Blick auf den abgewetzten Koffer, der zu seinen Füßen steht. Er ist nur halb gefüllt, mit ein bisschen Kleidung, billigem Weinbrand, den er vor ein paar Tagen in Hamburg auf dem Bahnhof gekauft hat, und einer |7| Stange englischer Zigaretten. Im Seitenfach hat er eine goldene Taschenuhr verstaut, einer der letzten Wertgegenstände, die ihm geblieben sind.
    Er richtet sich auf. Vorsichtig tastet er in der Innentasche seines Mantels nach dem braunen Umschlag, der ein paar zerknitterte Dollarnoten enthält, einen Bogen vorgedrucktes Briefpapier einer Firma namens Globus-Lichtspiele und eine Handvoll Schwarzweißbilder. Ein Porträtfoto zeigt eine junge Frau mit dunklen Locken, und Józef wendet das Bild, um die Widmung auf der Rückseite zu lesen. Auf dem nächsten Bild sitzt dieselbe Frau mit einem Baby auf dem Arm in einem Park, im Hintergrund eine Mauer aus Feldsteinen. Auf anderen Fotos ist er selbst zu sehen. Es sind Bilder wie aus einem Familienalbum. Józef trägt eine Uniform und schiebt einen Kinderwagen über eine Schotterstraße, dann wieder sieht man ihn und die Frau in einem Garten, unter hohen, alten Bäumen. Das Kind ist jetzt zwei Jahre alt, ein Junge mit blonden Locken. Er steht zwischen den Erwachsenen und hält sich an ihren Händen fest.
    Józef holt ein Foto nach dem anderen hervor, und während er die Aufnahmen im schwachen Licht der kleinen Lampe im Abteil betrachtet, entsteht vor seinen Augen das Panorama einer norddeutschen Kleinstadt, mit einem Kirchturm, einem Bahnhof und einer halb zerfallenen Schlossanlage, schmalen
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