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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt
Autoren: Walter Kempowski
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zweimal auf der Rücktour, und blickte gemeinsam mit ihm hinter dem jungen Mann her, der da mit seinem Mantel kämpfte; dann legte er die Weiche um. Er spuckte zwischen die Gleise und gab die Ausfahrt frei. Der Molly blies eine blaue Wolke hintenraus und gab ein quietschendes Signal von sich und legte sich in die Kurve. Biöööt!
    Zwischen einem Wall von Holunderbüschen, Weißdorn und Hundsrose zockelte er dahin, 40 km/h – ein Karnickel sprang hohlkreuzig-turnerisch über die Gleise.

    Eine kräftige Frau trat aus dem Bahnhofsgebäude und goß einen Eimer Wasser auf die Treppe – die Hühner flatterten zur Seite – und schrubbte die Stufen. Das verursachte ein angenehm resches Geräusch. Als der junge Mann vorüberging, mit Fahrrad und Koffer, hielt sie einen Moment inne.
    Wie de Tied, so ännern sick de Lüd: Hier war schon so mancher Fremde angekommen und bald wieder abgereist.

2

    M atthias radelte durch eine kopfsteingepflasterte Allee von arg beschnittenen Linden in die Kleinstadt hinein, an Villen aus den dreißiger Jahren vorüber, mit Gärten, in denen der Mai sich bereits ankündigte; die Ziersträucher lagen schon auf dem Sprung, endlich wieder voll loszulegen.

    Das Rad schepperte, obwohl Matthias im Rinnstein fuhr, abgefedert durch braune Knospenkapseln: links und rechts die zum Strunk beschnittenen Linden, jetzt ließen sie das erste junge Grün schlaff heraushängen.
    Leider mußte Matthias es im Vorüberfahren mit ansehen, daß in dieser stillen Straße eine Katze langgestreckt hinter einer schon beschädigten, quiekenden Maus herlief. Ein Schatten lief über sein Gesicht: Was würde er unternehmen können, wenn er die Kinder nicht«in den Griff»bekäme? Wenn sie weiterredeten, anstatt aufzustehen in den Bänken, wenn er die Klasse betritt, und ihn zu grüßen? Wenn sie also nichts dergleichen täten? Von einem solchen Fall war im Seminar bei Petersen nicht die Rede gewesen. Disziplinarmaßnahmen – gab es die?

    Menschen ließen sich hier nicht blicken. In dieser Straße wohnten Ärzte, wie an den Approbationsschildern zu sehen war, und die waren zu Ostern nach Oberbayern geeilt, die Skier auf das Dach ihres Mercedes geschnallt. Mit rasselnden Spikesreifen, die den Autobahnen natürlich überhaupt nicht schadeten, fuhren sie durch deutsche Lande, dem sogenannten Ferienziel entgegen. Zu dieser Tageszeit schwebten diese Leute wahrscheinlich zünftig vermummt im Skilift den Hang hinauf und sausten ihn traumhaft wieder hinunter, Stemmbogen links, Stemmbogen rechts, um erneut hinaufzuschweben und wieder hinunterzusausen. Dem Leben lebenswerte Seiten abgewinnen! den Körper auslasten! die Lungen sich weiten lassen in frischer bayerischer Winterluft! Schau, das Lieschen hält auch schon mit!
    Abends würden sie natürlich essen gehen, in die«Traube», wo 1937 ein Ufa-Film gedreht worden war,«Firnelicht», und wo es Haxen zu essen gab wie sonst nirgendwo.
    Matthias würde niemals mit rasselnden Spikesreifen zum Skilaufen in den Süden fahren, das war ihm klar. Aber das, was er jetzt vor sich hatte, war auch nicht zu verachten: eine Dorfschulmeisterexistenz auf dem Lande, ein Häuschen und ein Garten?

    In der Bahnhofsallee hatten die Haubitzen der Engländer gestanden, 1945, fünf Schuß hatten sie abgegeben, und dann war schon der Parlamentär um die Ecke gekommen: Friseur Hacker, ein aufrechter Sozialdemokrat, der keinen Dreck am Stecken hatte, sondern ganz im Gegenteil: fünf Wochen bei der Gestapo gesessen. Ein Händedruck war ihm von den Engländern verweigert worden. Einer der fünf Schüsse hatte die Klosterscheune in Brand gesetzt, aber die Kirche, gleich daneben, war unbeschädigt geblieben, dieses Kleinod mittelalterlichen Bauens! Die Seele war der Stadt erhalten geblieben. Hier wurde weiterhin getauft, konfirmiert und geheiratet. Und der Pfarrer guckt aus dem Fenster und sagt:«Wo bleibt bloß meine Frau?»

    Die Allee mündete mit einem Knick in die Hauptstraße ein – an dieser Stelle, an der noch im vorigen Jahrhundert ein Stadttor gestanden hatte, war von den Nazis damals aus Baumstämmen eine Panzersperre gebaut worden, 1945, als Kreuzthal zur Festung erklärt worden war. Und hier war beim Einmarsch der Engländer Volkssturmmann Grotheer zu Tode gekommen. Nachdem Friseur Hacker die Stadt bereits übergeben hatte, war er noch mal hin und her gerannt – das hatte sich der Feind nicht bieten lassen können.

    Matthias fuhr an dem Gymnasium vorüber, wegen der Osterferien war es
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