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Heidelberger Requiem

Heidelberger Requiem

Titel: Heidelberger Requiem
Autoren: Wolfgang Burger
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herlief. Weiß der Teufel, vielleicht saß er seinem Mörder inzwischen gegenüber und unterhielt sich angeregt mit ihm über die Pünktlichkeit der Deutschen Bahn.
    Was, wenn die beiden in Freiburg ausgestiegen waren? Oder schon früher? Vielleicht saßen sie jetzt in irgendeiner Regionalbahn ins Elsass? Vielleicht war Grotheer längst tot und Krahl auf dem Weg nach Paris? Während solche Überlegungen durch meinen Kopf wirbelten, stieg ich über Beine und Gepäck der Leute, die sich im Eingangsbereich zwischen den Waggons niedergelassen hatten.
    Mein Handy. Ich riss es aus der Jacketttasche und erwartete Vangelis oder Balke.
    »Können wir denn nicht vernünftig reden über alles?«, fragte mit verzagter Stimme die Ehefrau meines Chefs.
    »Ich wüsste nicht, was es noch zu reden gäbe.«
    »Aber … ich …«
    »Sie haben mich für dumm verkauft, Frau Liebekind. An der Nase herumgeführt. Und ich mag es nicht besonders, zum Narren gehalten zu werden.«
    »Aber … ich liebe dich doch«, sagte sie kläglich. »Hast du das denn nicht gespürt?« Jetzt begann sie auch noch zu weinen. »Empfindest du denn gar nichts für mich? Sollte ich mich denn so getäuscht haben?«
    Ich versuchte einen Kerl zur Seite zu schieben, der doppelt so breit war wie ich. Irgendwie kam ich an ihm vorbei. Mit dem Handy am Ohr sah ich ständig nach links und rechts.
    Was sollte ich antworten? Empfand ich etwas für sie? Natürlich tat ich das. Liebte ich sie? Keine Ahnung. Nein, bestimmt nicht. Ich war ja so unvorstellbar wütend. Und das Letzte, wonach mir jetzt der Sinn stand, war, über meine Gefühle für diese Frau nachzudenken.
    Aber als ich den roten Knopf drückte, tat sie mir plötzlich Leid. Liebte ich sie etwa doch? Als ob das jetzt eine Rolle spielte. Ich nahm einem schlafenden, rotgesichtigen Mann die Zeitung vom Gesicht. Verwirrt sah er mich an. Ich winkte freundlich und stolperte weiter. Wieder das Handy. Balke diesmal.
    »Das schaffen wir nie! Hier ist die Hölle los!«
    »Wir tun, was wir können.«
    »Das ist aber nicht besonders viel, ehrlich gesagt.«
    »Zwanzig Minuten haben wir noch.«
    »Achtzehn, um genau zu sein.«

27
    Ich rief in Heidelberg an und erfuhr von Liebekind, dass die Bahn sich weigerte, den ICE vor der Grenze aufzuhalten. Der Professor sei ein freier Mann und könne reisen, wohin er wolle. Und dafür, dass Krahl im Zug saß, hatten wir nicht die Spur eines Beweises.
    Zwei Zöllner versperrten mir den Weg und kontrollierten gewissenhaft das Gepäck einer attraktiven, groß gewachsenen Schwarzen, die schimpfend dabeistand und ihnen auf Französisch Pest und Cholera an den Hals wünschte. Ich zeigte ihnen meinen Dienstausweis und unser Foto von Krahl. Sie schüttelten ratlos die Köpfe und versprachen, die Augen offen zu halten.
    Der nächste Anruf kam von Vangelis, die wissen wollte, wie es bei mir aussah. Sie hatte bisher zwei Waggons geschafft, ich anderthalb. Vermutlich kam sie besser voran, weil man auf Frauen Rücksicht nimmt. Auf Männer nahm man keinerlei Rücksicht in diesem vermaledeiten Menschenauflauf, der mit Tempo hundertsechzig durch die Rheinebene gen Süden raste. Jemand verlor das Gleichgewicht und trat mir auf den Fuß, als wir über eine Weiche donnerten. Es war ein athletisch gebauter Mittfünfziger mit zwei schweren Taschen, die er offenbar um keinen Preis der Welt aus der Hand geben wollte. Wieder einmal entschuldigte ich mich.
    Draußen fegten mit Wein bewachsene grüne Hänge vorbei, idyllische Dörfer mit spitzen Kirchtürmen, eine kleine, friedlich grasende Schafherde. Ich wünschte mir diese alten Bummelzüge zurück, in denen noch Platz war, wo man Menschen nicht als Frachtgut, sondern als Passagiere ansah, wo man sich die Nase putzen konnte, ohne seinem Nachbarn dabei den Ellenbogen in die Milz zu rammen. Züge, die von Freiburg nach Basel eine Stunde brauchten oder länger.
    Kein Volker Krahl, kein Professor, kein bekanntes Gesicht.
    Jeder Sitz war besetzt, kein Stehplatz, auf dem nicht schon jemand stand. Auf einem Fensterplatz flegelte sich ein gelangweilter Kerl im schwarzen Lederanzug, trotz des Wetters mit dunkler Sonnenbrille im sonnengebräunten Gesicht. Dazu Baseball-Mütze, Kaugummi im offenen Mund und Stöpsel in den Ohren, aus denen Musik zischelte.
    Ich rempelte jemanden an und ließ mich dafür derb beschimpfen. Diesmal entschuldigte ich mich nicht. Ein anderer stieß mir seinen Aktenkoffer ins Kreuz. Der Zug fuhr jetzt langsamer, es ging in ein Wäldchen, die
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