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Heidelberger Requiem

Heidelberger Requiem

Titel: Heidelberger Requiem
Autoren: Wolfgang Burger
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offenen Mündern. Irgendwie schaffte ich es einzusteigen, Türen knallten, der Wagen beschleunigte, und noch bevor ich das Gurtschloss gefunden hatte, musste ich schon wieder aussteigen. Vor uns eine Treppe.
    »Gleis eins«, rief Balke, der schon wieder voraus war. »Ist ganz auf der anderen Seite! Wir müssen hier rauf!«
    Ergeben rannte ich die Treppe hinauf, einige zehn Meter über eine Fußgängerbrücke, dann bog Balke links ab, es ging wieder hinunter.
    Der Bahnsteig stand voller Menschen.
    »Was ist denn hier los?«, fragte Balke atemlos in die Runde. »Wird die Stadt evakuiert, oder was?«
    »Diese Deutsche Bahn wieder mal! Der Intercity um drei ist ausgefallen! Schlicht und einfach ausgefallen!«, maulte ein kräftiger Mann mit Halbglatze und Holzfällergesicht. »Und jetzt warten hier tausend Leute auf den ICE, und der ist bestimmt auch ohne uns schon voll, am Freitag Nachmittag.«
    Der Zug kam. Mein Handy klingelte. Es war eine Frauenstimme. Erst bei der zweiten Wiederholung verstand ich den Namen:
    »Theresa.« Die Frau meines Chefs.
    Ich trat ein paar Schritte zur Seite, um aus dem Gedränge und dem Lärm zu kommen.
    »Bist du sehr böse, Alexander?«, fragte sie.
    »Frau Liebekind. Wir waren beim ›Sie‹, und wir sollten es bleiben.«
    »Was habe ich denn getan?«
    »Mich hinters Licht geführt. In einem Maße, dass ich …«
    »Was wäre anders, wenn er nicht mein Mann wäre?«
    »Ich müsste zum Beispiel nicht jeden Tag um meinen Job fürchten. Ich müsste nicht ununterbrochen Angst davor haben, dass irgendwann irgendwer herauskriegt, was ich mir mit der Frau meines Chefs geleistet habe!«
    »Ich habe mich in deine Bewerbung verliebt«, sagte sie mit erstickender Stimme. »Wie du über dich geschrieben hast. So persönlich. Die anderen haben alle nur geprahlt, was sie alles können, was sie alles planen. Du warst der einzige, der über sich geschrieben hat. Und dann dein Foto … du bist sehr böse auf mich?«
    »Böse ist gar kein Ausdruck«, bellte ich ins Telefon. »Ich muss Schluss machen, der Zug fährt ab.«
    »Tschüs, Alexander«, flüsterte sie.
    »Adieu, Frau Liebekind. Grüßen Sie bitte Ihren Gatten von mir.«
    Ich lief zu den anderen zurück. Vor allen Türen drängten sich Menschentrauben. Inzwischen hatte mein Magen sich wieder halbwegs beruhigt. Auch das irritierende Gefühl, der Erdboden würde schwanken, ließ allmählich nach.
    »Jeder von uns übernimmt ein Drittel«, entschied ich. »Balke, Sie fangen vorne an, Vangelis nimmt den mittleren Teil, ich das Ende.«
    Sie hetzten davon. Die Lautsprecherstimme quäkte irgendwas. Flüche murmelnd schob ich mich in den Pulk vor der hintersten Tür des Zugs. Immerhin hatte ich kein Gepäck, das mich behinderte. Dann begannen die Türen zu fiepen, Sekunden später rollte der Zug schon wieder. Der Bahnhof blieb zurück, es wurde heller, und ich begann, mich durch die in den Gängen stehenden und sitzenden Menschen zu quetschen. Ich warf prüfende Blicke in jedes männliche Gesicht, hinter jede Zeitung, entschuldigte mich ständig bei irgendjemandem für irgendetwas. Nach fünf Minuten hatte ich die Hälfte des ersten Wagons geschafft und war davon überzeugt, dass wir ebenso gut hätten zu Hause bleiben können.
    Ich drängelte mich durch eine aufgebrachte italienische Großfamilie, die vielstimmig mit einer erhitzten, rundlichen Zugbegleiterin diskutierte, wie man denn nun um Himmels Willen von Basel weiter nach Firenze kommen solle. Ich entschuldigte mich bei einem sichtlich wohlhabenden Herrn, der über seinem Buch eingenickt war, und stieß ihn zugleich derb an, damit er aufwachte und ich sein Gesicht zu sehen bekam. Er zeterte hinter mir her. Endlich war der erste Waggon geschafft.
    Von Krahl keine Spur.
    Ob ich ihn womöglich übersehen hatte? Wie mochte er sich diesmal verkleidet haben? Er war etwas größer als der Durchschnitt, aber auch wieder nicht so sehr, dass er auffiel. Ob er wie wir durch den Zug streifte, um sein Opfer zu finden? Nein, vermutlich hatte er Grotheer längst ausfindig gemacht und wartete nun in aller Ruhe auf eine günstige Gelegenheit, seinen Plan zu vollenden. Bis Freiburg hatte er alle Zeit der Welt gehabt, den Professor zu finden, und bis dahin war der Zug nur halb so voll gewesen wie jetzt. Krahl war ja offenbar ein Genie, wenn es darum ging, sich unsichtbar zu machen. Und Grotheer würde in seinem Zustand nicht einmal merken, dass er verfolgt wurde, wenn jemand stundenlang im Gleichschritt neben ihm
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