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Ueberflieger

Titel: Ueberflieger
Autoren: Malcolm Gladwell
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    |5|
Für Daisy

|9| Einleitung
Das Geheimnis von Roseto
    »Die Leute sind an Altersschwäche gestorben. Das war’s.«

    1.
    Roseto Valfortore liegt in der italienischen Provinz Foggia, rund 200 Kilometer südöstlich von Rom, in den Ausläufern der Apenninen. Es ist ein typisch mittelalterliches Dorf mit einem großen Platz im Zentrum. An der Stirnseite dieses Platzes steht der Palazzo Marchesale, der Palast der Familie Saggese, die einst große Ländereien in der Region besaß. Durch einen Torbogen an der Seite des Palazzos gelangt man zur Chiesa della Madonna del Carmine, der Kirche Unserer Jungfrau Maria vom Berge Karmel. Verwinkelte, gepflasterte Gassen und Treppen ziehen sich die Hänge hinauf, gesäumt von zweigeschossigen Häuschen mit roten Ziegeldächern.
    |10| Jahrhundertelang arbeiteten die
paesani
von Roseto in den Marmorsteinbrüchen der umliegenden Hügel oder bestellten ihre Felder auf den Terrassen der Tiefebene. Jeden Morgen gingen sie zu Fuß die sieben oder acht Kilometer den Berg hinab ins Tal und jeden Abend gingen sie den langen Weg bergauf wieder zurück. Es war ein beschwerliches Leben. Die wenigsten der Dorfbewohner konnten lesen und schreiben, sie lebten in bitterer Armut und konnten sich kaum Hoffnung auf wirtschaftlich rosigere Zeiten machen. Doch dann verbreitete sich Ende des 19. Jahrhunderts die Nachricht vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten jenseits des Atlantiks in Roseto.
    Im Januar 1882 brachen elf Rosetani – zehn Männer und ein Junge – nach New York auf. Die erste Nacht in der Neuen Welt verbrachten sie auf dem Fußboden einer Taverne in der Mulberry Street in Manhattans Little Italy. Von dort zogen sie nach Westen weiter und fanden schließlich Arbeit in einem Schiefersteinbruch in Bangor, einer rund 150 Kilometer westlich von New York gelegenen Kleinstadt in Pennsylvania. Im Jahr darauf verließen 15 weitere Männer Roseto in Richtung Amerika, und einige von ihnen stießen zu ihren Landsleuten in den Steinbrüchen von Bangor. In ihren Briefen malten die Auswanderer den Daheimgebliebenen die Verheißungen der Neuen Welt in schillernden Farben aus, und schon bald packte in Roseto eine Gruppe nach der anderen die Koffer und brach nach Pennsylvania auf. Aus dem Strom der Auswanderer wurde ein reißender Fluss. Allein im Jahr 1894 beantragten 1 200 Bürger von Roseto einen Reisepass, um nach Amerika zu emigrieren, und ganze Straßenzüge des alten Dorfes blieben entvölkert zurück.
    In Pennsylvania kauften die Rosetani Land an einem geröllübersäten Hügel, der mit Bangor durch einen abschüssigen, steinigen Feldweg verbunden war. Dort bauten sie zweigeschossige Häuschen mit schwarzen Schieferdächern, die sich entlang von verwinkelten, gepflasterten Gassen den Hang hinaufzogen. Sie errichteten eine Kirche und weihten sie auf den Namen Unsere Jungfrau |11| Maria vom Berge Karmel. Die Hauptstraße, an der die Kirche stand, nannten sie Garibaldi Avenue, nach dem Helden der italienischen Einigungsbewegung. Anfangs hieß ihr Dorf New Italy, doch schon bald tauften sie es in Roseto um, was nahelag, denn die meisten seiner Einwohner kamen aus derselben italienischen Ortschaft.
    Im Jahr 1896 übernahm ein tatkräftiger junger Pfarrer namens Pasquale de Nisco die Kirchengemeinde. De Nisco gründete katholische Vereine und organisierte Gemeindefeste. Er ermunterte die Dorfbewohner, Äcker anzulegen und in den Gärten hinter ihren Häusern Zwiebeln, Bohnen, Kartoffeln und Melonen anzubauen und Obstbäume zu pflanzen. Er verteilte sogar das Saatgut. Allmählich erwachte der Ort zum Leben. In ihren Hinterhöfen hielten die Rosetani Schweine, und auf den Hängen bauten sie Wein an. Sie errichteten Schulen und ein Kloster und legten einen Friedhof und einen Park an. Entlang der Hauptstraße wurden kleine Läden, Bäckereien, Restaurants und Bars eröffnet. Es entstand ein halbes Dutzend Textilmanufakturen, in denen Hemden und Blusen hergestellt wurden. Die Einwohner des Nachbarorts Bangor waren überwiegend Einwanderer aus Wales und England, der nächste Ort war mehrheitlich deutsch, und da die Beziehungen zwischen Engländern, Deutschen und Italienern damals eher unterkühlt waren, blieb Roseto fest in italienischer Hand. Die wenigen auswärtigen Besucher, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Hauptstraße entlanggingen, hörten nur Italienisch, oder genauer gesagt den Dialekt, der in der Gegend um Foggia gesprochen wurde. Neu-Roseto in
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