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Das sexuelle Leben der Catherine M.

Das sexuelle Leben der Catherine M.

Titel: Das sexuelle Leben der Catherine M.
Autoren: Catherine Millet
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1 Die Zahl
    Zahlen und Mengen haben mich als Kind sehr beschäftigt. Deutlich erinnert man doch nur das aus den ersten Lebensjahren, was man selbst gedacht oder gemacht hat. Dabei kommt das eigene Bewusstsein zum ersten Mal zum Vorschein. Erlebnissen dagegen, die wir mit anderen teilen, haftet eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich der Gefühle (Bewunderung, Angst, Liebe oder Abscheu) an, die andere Menschen in uns wecken und die wir als Kind noch weniger einordnen oder gar verstehen können als im Erwachsenenalter. Ich erinnere mich besonders gut an die Überlegungen, die ich jeden Abend vor dem Einschlafen beim gewissenhaften Zählen anstellte. Kurz nach der Geburt meines Bruders, ich war damals dreieinhalb, zogen wir um. In den ersten Jahren stand mein Bett im größten Zimmer der neuen Wohnung gegenüber der Tür. Ich konnte nicht einschlafen, solange ich mir nicht nacheinander bestimmte Fragen gestellt hatte; dabei sah ich ins Licht aus der Küche gegenüber, wo meine Mutter und meine Großmutter noch zugange waren. Eine Frage drehte sich darum, mehrere Ehemänner zu haben; nicht, ob es möglich sei – denn das war es wohl –, sondern unter welchen Bedingungen. Konnte eine Frau mehrere Männer gleichzeitig haben oder immer nur einen nach dem anderen? Und wenn das Zweite zutraf: Wie lange musste sie mit einem verheiratet sein, bevor sie wechseln konnte? Und wie viele Männer waren »angemessen«? Ein paar, fünf oder sechs? Oder sehr viel mehr, unzählige gar? Wie würde ich damit umgehen, wenn ich groß wäre?
    Mit den Jahren ersetzte die Frage nach der Kinderzahl die Frage nach der Anzahl der Männer. Ich glaube, nachdem ich mir vorstellen konnte, von einem konkreten Mann verführt zu werden, und meine Schwärmerei auf ihn konzentrierte (erst waren es Kinostars, dann ein Cousin aus Deutschland), war ich der Ungewissheit weniger ausgeliefert. Ich konnte mir mein Leben als verheiratete Frau und folglich auch als Mutter sehr viel besser vorstellen. Es ergaben sich also wieder die gleichen Fragen: Waren sechs Kinder »angemessen« oder konnte man mehr haben? Wie groß sollte der Altersunterschied zwischen ihnen sein? Wie viele Mädchen und wie viele Jungen sollte man haben?
    In meiner Erinnerung sind diese Überlegungen mit anderen obsessiven Gedanken verknüpft, die ich mir gleichzeitig machte. Ich fühlte mich Gott gegenüber verpflichtet, jeden Abend für sein leibliches Wohl zu sorgen; die Anzahl der Speisen und der Gläser mit Wasser, die ich ihm in Gedanken zukommen ließ, ich war mir unsicher, ob die Menge und die Häufigkeit der Gaben richtig war –, wechselten daher mit der Frage nach der Anzahl der Männer und Kinder in meinem künftigen Leben ab. Ich war sehr fromm, und es ist nicht ausgeschlossen, dass meine Verwirrtheit über das wahre Wesen Gottes und seines Sohns meinen Hang zum Zählen verstärkte. Gott war die dröhnende Stimme, die die Menschen zur Ordnung rief, sein Gesicht zeigte er nicht. Doch man hatte mir beigebracht, dass Gott auch das rosa Porzellanpüppchen war, das ich jedes Jahr in die Krippe legte, der Unglückliche am Kreuz, vor dem man betet, aber er war auch Gottes Sohn. Und ein Phantom, das man Heiligen Geist nennt. Sicher wusste ich nur, dass Josef Marias Mann war und Jesus, Gott und Gottessohn zugleich, ihn »Vater« nannte. Maria war zwar Jesu Mutter, manchmal aber auch seine Tochter.
    Im Katechismusunterricht bat ich den Priester um ein Gespräch und legte ihm folgendes Problem dar: Ich wollte Nonne werden, mich mit »Gott vermählen« und in Afrika missionieren, wo es von armen Volksstämmen nur so wimmelte, ich wollte aber auch Männer und Kinder haben. Der Priester meinte lakonisch, solche Gedanken seien etwas verfrüht, und beendete zügig das Gespräch.
    Bis die Idee zu diesem Buch entstand, dachte ich über meine Sexualität nie groß nach. Mir war gleichwohl bewusst, dass ich viele flüchtige Beziehungen gehabt hatte, was bei jungen Frauen, besonders meiner Herkunft, eher ungewöhnlich ist. Im Alter von 18 Jahren verlor ich meine Jungfräulichkeit – was nicht gerade früh ist –, und schon wenige Wochen danach hatte ich zum ersten Mal Gruppensex. Dieses eine Mal ergriff nicht ich die Initiative, aber dann stürzte ich mich hinein – was mir bis heute völlig unerklärlich ist. Ich dachte immer, es habe sich eben so ergeben, dass mein Lebensweg mit Männern gesäumt war, die Gruppensex mochten oder gerne dabei zusahen, wie ihre Partnerinnen mit anderen Männern
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