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Grafeneck

Titel: Grafeneck
Autoren: Rainer Gross
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anders empfinden und immer wieder Teile von ihr ignorieren. Man kann so tun, als gäbe es den Abgrund nicht. Das ändert letztlich nichts.
    Wie soll man in der Welt leben?
    Greving steigt den Weg wieder hinab, schlendert noch einmal über den Innenhof, tritt aus dem Tor und lenkt seine Schritte die Talstraße entlang auf das Gasthaus zu. Genießen, was man hat, denkt er. Seine Arbeit tun, das, was einem vor die Hände kommt. Essen und Trinken und für das dankbar sein, was man hat. Wissen, daß der Schöpfer einen kennt und weiß, woran man geglaubt hat zu Lebzeiten.
    Greving betritt den Gasthof und setzt sich an einen Tisch am Fenster. Von hier aus kann er die Weiden sehen und die Herde, die noch dort grast. Er bestellt und sitzt ruhig und zufrieden da, schaut aus dem Fenster. Zündet sich eine Zigarette an und läßt den Rauch zur Decke steigen. Morgen rede ich noch einmal mit Mauser, sagt er sich und freut sich auf das Essen.

18
    Abends geht Mauser zu Fuß durchs Dorf. Es ist jetzt länger hell, in der Dämmerung sitzt mancher vor dem Haus und schaut zu, was die Straße lang kommt. Vögel singen, ein Trecker wird am Straßenrand entladen. Die Fenster in den Häusern sind erleuchtet, dahinter sieht man Gestalten umhergehen oder in der Küche hantieren. Das Klappern von Töpfen ist zu hören, die Geräusche tragen weit.
    Mauser steigt die Straße hinauf zu Veronikas Haus. Vor der Tür bleibt er stehen und schaut hinauf. Licht in den Fenstern, sie ist zu Hause. In der Werkstatt ist es dunkel. Er bleibt unschlüssig davor stehen und rührt sich nicht. Solange sie ihn nicht sieht, kann er hier stehen bis morgen früh.
    Merkwürdig, daß man sich so schnell fremd werden kann, denkt er. Gegenüber einem Menschen, der einem vertraut war. Aber jetzt, denkt er. Jetzt ist es vorbei. Er überlegt, was nun anders ist als noch vor Tagen. Veronika ist immer noch dieselbe. Vielleicht hat er sich vorgemacht, er dürfte das alles nicht mehr annehmen. Vielleicht ein Schuldgefühl, ein Zwang zum Draußenstehen. Ob sie ihn verstanden hätte oder nicht, darauf kommt es nicht an. Er wollte nicht.
    Ich wollte ihre Vertrautheit nicht mehr.
    Jetzt will ich sie wieder.
    Komisch, denkt er.
    Er läutet, und sie schaut wieder aus dem Fenster, wie sie es immer macht.
    »Veronika, der Lenz ist da«, sagt er sogar, und sie lacht.
    »Komm rauf!«
    Sie setzen sich in die Küche.
    »Hast du Hunger?« fragt sie.
    Er nickt.
    »Ich mache dir eine gebrannte Grießsuppe, ist das recht?«
    Er nickt wieder.
    Mit Erstaunen sieht er ihr zu, wie sie den Topf auf den Herd stellt, aus dem Vorratsschrank die Schachtel mit dem Grieß hervorholt, ein Stück Butter in den Topf fallen läßt und die Gasflamme anzündet. Erstaunen, daß das alles wieder sein darf. Er trägt nicht länger ein Geheimnis mit sich herum. Alles ist, was es immer war. Eine heimelige Verrichtung am Abendherd. Sie tut es für ihn, und dennoch tun es ihre Hände von selbst, denken nichts dabei, folgen selbstverständlich den Anweisungen, die sie auswendig kennen, weil sie es schon hundertmal gemacht haben. In die zerlassene Butter schüttet sie Grieß, wartet, bis er braun gebrannt ist, zerbröckelt einen Suppenwürfel darin, gießt mit Wasser auf, rührt.
    »Wie du das machst«, sagt er.
    »Ach, Hermann«, lacht sie und schaut nicht her dabei. »Was hast du denn wieder?«
    »Bin lang nicht mehr bei dir gewesen«, sagt er und nickt nachdenklich.
    »Aber jetzt bist du da.«
    Er sitzt und sieht zu, wie sie den Rest des Wassers aufgießt, dann aus dem Kühlschrank ein Ei holt.
    »Möchtest du ein Ei hinein?« fragt sie neben dem Rühren.
    »Gern.«
    Je länger er sitzt, desto ruhiger wird er. Es ist alles in Ordnung, sagt er sich. Das Leben kommt wieder in Gang. Wo war ich denn die letzten Tage? Wenn er an seinen Vater denkt, ist da nur eine wohltuende Leere. Immer noch. Als hätte der sich endgültig verabschiedet, als wäre mit der Geschichte um die Leiche auch die ganze damalige Zeit zu Ende gebracht. Mauser ist froh, daß er die Pistole nicht mehr im Haus hat. Er sieht zu, wie Veronika das Ei am Topfrand aufschlägt und es in den Topf gleiten läßt, aus der Schale heraus, wie sie rührt, so daß Eigelb und Eiweiß sich mischen. Er könnte ihr alles erzählen. Sie würde zuhören, und es wäre egal, ob sie verstünde oder nicht. Sie würde eine eigene Meinung zu den Geschehnissen haben, die Sache mit ihren Augen sehen, er würde eine andere Sicht der Dinge zu hören bekommen. Das wäre
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