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Grafeneck

Titel: Grafeneck
Autoren: Rainer Gross
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Greving und lacht. »Aber vielen Dank. Das ist was anderes als immer im Auto unterwegs.«
    »Was haben Sie früher für eine Maschine gehabt?«
    »Zuerst natürlich ein Moped. Und nach dem Führerschein eine Hundertfünfundzwanziger, eine Honda. So einen kleinen Flitzer.«
    »Die Zweizylinder Twin?«
    »Ja genau. Das sollte man wieder anfangen. Man ist nie zu alt.«
    »Einer ist nie so alt, wie er sich fühlt«, sagt Mauser. Greving behält den Helm in der Hand und schaut die Allee entlang.
    »Da ist jetzt wieder eine Psychiatrische Klinik drin«, erklärt Mauser. »Die Häuser sind Wohnungen für die Patienten und für die Mitarbeiter.«
    Greving schaut und nimmt jede Einzelheit auf.
    »Da müssen die Baracken gestanden haben«, sagt er.
    »Man muß es sich vorstellen können«, sagt Greving.
    »Man braucht Vorstellungskraft.«
    »Vorstellungskraft.« Mauser nickt. »Sonst könnt einer das für ein ganz normales Schloß halten.«
    Unter den Bäumen liegt im Schatten ein Rund aus Beton, in dessen Mitte ein Pavillon mit einem Gedenkstein. Daneben der Plastikkasten mit der Namenliste.
    Greving blättert das Buch durch. All die Namen, denkt er.
    »Das kann man sich nicht vorstellen«, sagt er. »Jeder einzelne eine Geschichte. Jeder ein Leben.«
    »Muß einer sich das überhaupt vorstellen, frag ich mich manchmal«, sagt Mauser, der neben ihm steht. Er muß oft hier gewesen sein, denkt Greving. Den Namen seiner Schwester in dem Buch gelesen haben. Getrauert. An sie gedacht.
    »Um betroffen zu sein«, antwortet Greving.
    »Sind wir betroffen, bloß wenn wir was fühlen? Müssen wir uns extra in Stimmung versetzen?«
    Was diesen Menschen wohl bewegt, fragt sich Greving. Er hängt noch immer fest an einer Frage, die der Tote aufgeworfen hat. Recht oder Unrecht.
    »Jeder einzelne Name ist bekannt«, sagt Greving. »Kein Name geht verloren, selbst deren Namen nicht, die hier nicht stehen. Selbst die der Täter nicht.«
    »Daran glauben Sie?«
    Greving nickt.
    Sie setzen sich auf eine der Bänke unter den Bäumen und legen die Helme neben sich. Eine Geste der Kameradschaft, denkt Greving. Mauser holt eine seiner dünnen Zigarren aus dem Etui in seiner Jackentasche. Greving will zuerst seine Schachtel Zigaretten hervorkramen. Dann bittet er Mauser um eine Zigarre. Mauser hält ihm das Etui hin.
    Beide zünden an, Greving inhaliert aus Gewohnheit den Rauch und muß husten.
    Er erinnert sich an die Viertelstunde, die sie im Wald vor der Höhle gesessen und geredet haben. Vielleicht läßt sich das Gespräch jetzt fortsetzen.
    »Glauben Sie das eigentlich? Das mit der Auferstehung?« fängt Mauser tatsächlich an.
    »Die leibliche Auferstehung?«
    »Daß alle aus ihren Gräbern kommen. Daß jeder versammelt wird, egal wie lang es her ist.«
    »Die einen zum Gericht, die anderen zum Leben.«
    »Aber was heißt das?«
    »Auch ein Hitler wird sich verantworten müssen.«
    »Sie meinen, ’s gibt ein letztes Gericht? Ist das nicht bloß Vertröstung?«
    »Es ist ein Trost, das stimmt.«
    »Daß alle wiederkommen. Mutz und mein Vater und meine Mutter … Dann wäre das alles ja gar nicht so schlimm.«
    »Schlimm sind die ewig Verlorengegangenen, die verlorengehenden Leben. Entscheiden kann man sich dann nicht mehr. Es wird sein, was es gewesen war.«
    »Und was ist das für ein Gericht?«
    »Gericht ist immer Gericht. Wenn es um nichts ginge, dann bräuchten wir auch kein Erbarmen.«
    Mauser schnippt die Asche von seiner Zigarre und schaut Greving nicht an. Sie reden wie aneinander vorbei, zielen ins Ungefähr und hoffen, den anderen zu finden mit dem, was sie sagen. Wort für Wort.
    »Wir brauchen aber Erbarmen«, sagt Mauser.
    »Angesichts der Namen in dem Buch da«, sagt Greving und nickt. »Angesichts solcher Leute wie Schumacher. Angesichts dessen, daß wir unser Leben nicht selbst gelingen lassen können.«
    »Das gehört doch dazu.«
    »Wir sind Geschöpfe. Jemand wollte, daß es uns gibt. Daran sollten wir immer denken. Aber es gelingt uns nicht. Der fehlt uns, der uns erschaffen hat. Der ist nicht in unserem Leben.«
    »Was würd das ändern? Wenn er da wär, mein ich, so wie die Pfarrer sagen?«
    »So wie die Pfarrer sagen, haben sie ja recht. Er ist uns doch nah. Irgendwie. Das ist der Sinn der Osterbotschaft, denke ich.«
    »Ostern? Weil er auferstanden ist, meinen Sie? Das hat auch nichts geändert. Sogar wenn einer dran glaubt.«
    »Das ist die Befreiung. Ich weiß nicht, ob ich das wirklich begriffen habe. Aber er lebt.
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