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Linda Lael Miller

Linda Lael Miller

Titel: Linda Lael Miller
Autoren: Ein suendiger Engel
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Prolog

    Northridge, Washington
    April 1886
    Mit wehendem schwarzem
Haar und tränenüberströmtem Gesicht rannte das Kind an den Hütten vorbei. An
der letzten Kate, die dem brausenden Fluß am nächsten war, sprang es über die
abgetretene Holzkiste, die als Stufe zum Eingang diente.
    »Gran!« schrie das kleine Mädchen. »Gran!«
    Die Hütte
hatte nur einen einzigen Raum, und es gab nicht einmal ein Fenster, durch das
die Sonnenstrahlen Einlaß gefunden hätten. Gran stand am Herd, der sich
zwischen einem schmalen Bett und einer noch schmaleren Pritsche befand. Aus
Grans strengem Knoten hatte sich eine Strähne gelöst. Das eisengraue Haar
klebte feucht an ihrem Nacken.
    Die
schrille Dampfsirene im Hüttenwerk oben auf dem Berg verkündete, daß es zwölf
Uhr mittags war – drei Stunden zu früh für Bonnie Fitzpatrick, um schon aus der
Schule zurück zu sein.
    Gran war
eine sanfte Frau, die jedoch wenig Sinn für Unfug hatte. »Was soll das heißen,
Kind, daß du schon so früh nach Hause kommst?« erkundigte sie sich ärgerlich.
»Und warum siehst du aus, als sei der Teufel persönlich hinter dir her?« fügte
sie hinzu und bekreuzigte sich rasch.
    Bonnie
schluckte. Die Mackersonzwillinge hatten wieder einmal einen Triumph über sie
errungen, wenn auch nicht durch ihre
Quälereien, aber immerhin damit, daß es ihnen gelungen war, sie, Bonnie, in die
Flucht zu schlagen. Und nun hatte sie noch viel größeren Ärger zu erwarten,
nicht nur mit ihrer Lehrerin, sondern auch mit Gran und vielleicht sogar mit
Dad, wenn er von der Arbeit im Hüttenwerk zurückkehrte. Und zu allem Überfluß
würde sie in die Schule zurückkehren und sich erneut diesen verwöhnten Biestern
stellen müssen – den Töchtern des Hüttenwerkdirektors, die sich ihrer
Überlegenheit ihr gegenüber durchaus bewußt waren!
    »Nun?« Gran
legte den hölzernen Kochlöffel beiseite und setzte sich auf das altersschwache
Bett, das sie nachts mit Bonnie teilte. »Komm zu mir«, forderte sie ihre
Enkelin auf.
    Bonnie
gehorchte. »Die Mackersonzwillinge haben mich eine dumme Irin genannt!« sagte sie
weinend. »Ich sei nichts wert, sagten sie, und würde niemals an einem besseren
Ort als Patch Town leben.«
    Statt der
Strafpredigt, die Bonnie erwartet hatte, legte ihre Großmutter tröstend einen
Arm um ihre Schultern. »Du weißt, daß du eine Tochter Irlands bist, Bonnie, und
darauf darfst du stolz sein. Aber das bist du doch, nicht wahr?«
    Die
Vorurteile, unter denen Bonnie zu leiden hatte, reichten aus, diesen Glauben zu
erschüttern, wenn nicht sogar ganz zu zerstören. Was nutzte es ihr, eine
Tochter Irlands zu sein, wenn das einzige Kleid, das sie besaß, so alt und
abgetragen war, daß weder das Muster des Stoffes noch die Farbe zu erkennen
waren? Oder, wenn sie viel zu kleine Schuhe tragen mußte, in denen sie hinkte
wie ein Krüppel?
    »Bonnie
Fitzpatrick, du wirst mir meine Frage beantworten, und zwar sofort!« verlangte
Gran.
    »Vielleicht
haben die Mackersons ja recht«, entgegnete Bonnie seufzend.
    »Was?« Gran
drehte Bonnie an den Schultern zu sich herum und hob drohend die Hand. Doch
dann ließ sie sie wieder sinken. Ein heiteres Funkeln, das so gar nicht zu dem
Elend paßte, das die stolzen Fitzpatricks befallen hatte, erschien in ihren
blauen Augen. »Dann habe ich ganz offensichtlich versäumt, dir etwas über den
Tag deiner Geburt zu erzählen, meine Kleine«, sagte sie, und ihr irischer
Akzent, durch Zeit und Unglück verblaßt, schlich sich wieder in ihre Stimme
ein.
    Bonnies
tiefblaue Augen weiteten sich vor Erstaunen. Mit ihrer schmutzigen Hand strich
sie ihr kastanienbraunes Haar zurück. »Ist denn an jenem Tag etwas
Außergewöhnliches geschehen?« fragte sie und hoffte, es möge so gewesen sein.
    Gran nickte
bedeutungsvoll und senkte verschwörerisch die Stimme. »So ist es, Kind – unser
Herrgott war bei deiner Geburt anwesend, Bonnie. Er nahm dich in seine starken
Zimmermannshände und hielt dich lächelnd in die Höhe, um dich Gottvater zu
zeigen. Sein schönes Gesicht leuchtete vor Freude über deine Geburt.« Hier
hielt Gran inne, um sich noch einmal zu bekreuzigen, dann schloß sie die Augen
und murmelte ein kurzes Gebet. » > Sieh nur, Vater < , sagte er, > ist sie
nicht ein wunderschönes Kind? < «
    Bonnie
hatte ganz unbewußt den Atem angehalten. »Ach geh!« meinte sie ungläubig, aber
ihr Herz pochte angesichts dieser unglaublichen Vorstellung wie wild gegen
ihre Rippen.
    »Es
stimmt«, beharrte Gran und
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