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Die Frau des Diplomaten (German Edition)

Die Frau des Diplomaten (German Edition)

Titel: Die Frau des Diplomaten (German Edition)
Autoren: Pam Jenoff
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1. KAPITEL
    Ich weiß nicht, wie viele Stunden oder Tage ich auf dem harten, kalten Boden lag und auf den Tod wartete. Eine Zeit lang kam es mir so vor, als sei ich bereits tot, eingehüllt in die Finsternis und Stille meines Grabes, unfähig zu sprechen oder mich zu rühren.
    Ein stechender Schmerz zuckt durch meine rechte Seite. Nein, es ist noch nicht vorbei. In winzigen Wellen kehren die Geräusche zurück in meine Wahrnehmung: das Scharren der Ratten hinter dem Mauerwerk, tropfendes Wasser, das zu weit entfernt ist, als dass ich es erreichen könnte. Auf dem eisigen Beton beginnt mein Kopf schmerzhaft zu pochen.
    Nein, ich bin nicht tot. Noch nicht, aber bald, denn lange kann ich es nicht mehr ertragen. Im Geiste sehe ich den Wachposten über mir stehen, wie er eine Eisenstange in die Höhe reckt, um damit zuzuschlagen. Mein Magen verkrampft sich. Habe ich geredet? Nein , erwidert eine Stimme irgendwo in meinem Inneren. Du hast nichts gesagt. Das hast du gut gemacht. Es ist eine Männerstimme. Alek. Oder vielleicht Jakub. Aber natürlich kann es keiner von beiden sein. Alek ist tot, die Gestapo hat ihn erschossen. Und Jakub ist vermutlich auch tot, es sei denn, er hat es mit Emma bis zur Grenze geschafft.
    Emma. Ich sehe noch immer ihr Gesicht vor mir, wie sie auf der Eisenbahnbrücke über mich gebeugt steht. Ihre Lippen fühlten sich kühl auf meiner Wange an, als sie mir den Abschiedskuss gab. „Gott möge dich behüten, Marta.“ Zu schwach, um etwas zu erwidern, nickte ich nur und schaute ihr nach, wie sie zum anderen Ende der Brücke lief und in der Dunkelheit verschwand.
    Nachdem sie fort war, drehte ich den Kopf zur Seite und sah den dunkelroten Fleck, der sich unter mir im Schnee bildete. Blut. Mein Blut. Oder vielleicht sein Blut? Der Kommandant lag nur ein paar Meter von mir entfernt reglos auf dem Boden. Sein Gesicht hatte etwas Friedliches, fast Unschuldiges an sich, und einen Moment lang konnte ich verstehen, wie es möglich war, dass Emma etwas für ihn empfunden hatte.
    Aber ich hatte nichts für ihn empfunden. Ich hatte ihn getötet.
    Die Seite, auf der die Kugel aus der Waffe des Kommandanten in mich eingedrungen war, begann entsetzlich zu brennen. In weiter Ferne hörte ich Sirenen, die allmählich näher kamen. Für einen Augenblick bedauerte ich, dass ich Emma zum Gehen aufgefordert hatte, anstatt ihr Angebot anzunehmen und mir von ihr helfen zu lassen. Aber ich hätte sie auf ihrer Flucht nur aufgehalten, und am Ende wären wir beide umgekommen. So hatte wenigstens sie eine Chance. Alek wäre stolz auf mich gewesen. Jakub auch. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie auch Jakub sich über mich beugt, während der Wind mit seinem braunen Haar spielt. „Danke“, sagt er tonlos, und dann verschwindet auch er.
    Als die Gestapo eintraf, lag ich mit geschlossenen Augen da und wünschte mir einen schnellen Tod. Als den Männern klar wurde, dass ich den Kommandanten getötet hatte, zweifelte ich nicht daran, auf der Stelle erschossen zu werden. Doch einer der Männer wandte ein, dass sie mit ihrer Munition sparsam umgehen müssten, und ein anderer ergänzte, dass man mich sicherlich befragen wollte. Also hoben sie mich vom Boden auf. „Sie wird sich noch wünschen, wir hätten sie gleich hier erledigt“, meinte einer von ihnen, als man mich brutal auf die Ladefläche eines Lastwagens warf.
    Wenn ich jetzt an diese Worte zurückdenke, schaudert es mir, weil sie sich bewahrheitet haben. Das Ganze ist jetzt Monate her, vielleicht sogar Jahre. Die Zeit verliert hier an Bedeutung, da jeder endlose Tag von Einsamkeit, Hunger und Schmerz geprägt ist. Das Schlimmste ist die Einsamkeit. Seit man mich hergebracht hat, bin ich keinem anderen Gefangenen begegnet. Manchmal lege ich mich ganz dicht an die Wand und glaube, in der Zelle nebenan jemanden reden oder auch nur atmen zu hören. „Hallo?“, flüstere ich und drücke mein Ohr an die Fuge zwischen Wand und Boden. Aber ich erhalte nie eine Antwort.
    Wenn im Korridor Schritte zu hören sind, überkommt mich jedes Mal Angst. Ist es der Junge, der mich mit seinen dunklen, leeren Augen anstarrt, während er ein Tablett mit verschimmeltem Brot und bräunlichem Wasser vor mich hinstellt? Oder ist es einer von ihnen? Wenn sie mich foltern, dann stets in unregelmäßigen, unberechenbaren Zeitabständen. Mal lassen sie mich tage- oder wochenlang in Ruhe, dann wieder holen sie mich jeden Tag aus meiner Zelle. Sie stellen mir immer wieder die gleichen
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