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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder
Autoren: Mirjam Pressler
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die mächtiger sind als Taten des Geistes, er hat in einem Moment gehandelt, als alle anderen gelähmt waren vor Angst.«
    Er hob die Arme, die in den grauen Himmel ragten wie die vertrockneten Äste eines alten Baums, dem die Zeit das Blattwerk geraubt hat, und seine Stimme war furchtbar: » Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen, der Name des Herrn sei gepriesen .«
    I ch weiß nicht, ob ich diese Worte wirklich gehört habe oder ob ich mir nur einbilde, sie gehört zu haben, denn auch ein Jahr später, bei der Beerdigung seines jüngsten Enkels, dem es nicht vergönnt war, sein zweites Jahr zu überleben, sprach der Rabbi die Worte: » Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen, der Name des Herrn sei gepriesen «, und nach einem weiteren Jahr sprach er sie an den offenen Gräbern von Kindern, die ein tückisches Fieber dahingerafft hatte. Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen, der Name des Herrn sei gepriesen . Mir hatte er einen Freund gegeben, mir hatte er einen Freund genommen, und es fiel mir in diesem Moment schwer, sehr schwer, seinen Namen zu preisen, ich wehrte mich dagegen.
    Es war in der Zeit zwischen Mincha und Ma’ariw, die gleiche Stunde, in der es am Tag zuvor geschehen war, der Himmel war aus Blei und hing schwer über dem Friedhof, sogar die Luft war schwer und umschloss mich wie ein Panzer, sodass ich mich nicht rühren konnte. Auch als der Rabbi ein Gebet sprach, das mit den Worten schloss: Von Staub bist du, zu Staub wirst du, konnte ich mich nicht rühren. Ich sah Schmuliks Gesicht vor mir, so weiß, wie es am Tag zuvor gewesen war, nachdem seine Seele den Körper verlassen hatte, ich sah, wie es Sprünge und Risse bekam und in immer kleiner werdende Scherben zerfiel.
    Ich konnte mich auch nicht rühren, als einer nach dem anderen an das offene Grab trat und drei Schaufeln Erde auf den warf, der mir Freund gewesen war und jetzt schon begann, zu Staub zu werden. Erst als der Rabbi meinen Namen aussprach, gelang es mir, mich aus der Erstarrung zu lösen.
    D er Rabbi wandte sich an Jankel. »Da Schmulik keinen männlichen Verwandten hat, wirst du, Jankel, den Kaddisch sprechen, jetzt und in Zukunft, und du wirst darauf achten, dass dreißig Tage lang für ihn ein Seelenlicht in der Altneuschul brennt.«
    Jankel trat zum Grab und nahm das Gebetbuch, das ihm Schimon aufgeschlagen hinhielt. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen zu schwarzen Flecken und von den Seiten blickten ihm Gesichter entgegen, die Gesichter seiner Mutter, seines Vaters, Tante Schejndls und Schmuliks, und die Luft an seiner Haut zitterte, als würde sie von den Schwingen des Todesengels bewegt. Er senkte die Lider und blinzelte ein paarmal, bis die Buchstaben klar wurden, dann sprach er den Kaddisch. Er war nun, nach der langen Zeit im Haus Rabbi Löws, schon so vertraut mit der heiligen Sprache, dass die Worte rein und schön aus seinem Mund kamen. Seine Stimme schwebte über die hellen Grabsteine hinauf zum grauen Himmel.
    Nachdem er geendet hatte, blieb es eine Weile still, bevor die Anwesenden zwei Reihen bildeten, durch die Riwke, ihre Töchter und Jente gingen, während die anderen die Trostworte sprachen: » Der Allgegenwärtige tröste euch inmitten der Übrigen, die um Zion und Jerusalem trauern .«
    Dann entfernten sie sich langsam. Jankel sah ihnen nach, wie sie den Weg entlanggingen, vier Frauengestalten, die sich von hinten so glichen, dass man sie kaum auseinanderhalten konnte, als wäre die Trauer um den Sohn, den Bruder und den Neffen eine einzige Trauer mit der Macht, alle Unterschiede des Alters und des Gemüts auszugleichen.
    Er sah ihnen so lange nach, bis die Beerdigungsbrüder das Grab zugeschaufelt hatten, dann wusch er sich die Hände, wie es vorgeschrieben war, und ging mit seinem Onkel und seiner Tante nach Hause, begleitet von Jizchak und Schimon. Tante Perl richtete ihnen ein Abendessen, doch Jankel bekam keinen Bissen hinunter, seine Kehle war wie zugeschnürt. Sie drängte ihn zu essen, wenigstens ein paar Bissen, doch der Rabbi sagte: »Lass ihn, Perl, lass ihn.«
    Später saßen sie dann im Studierzimmer, der Hohe Rabbi Löw, Jizchak, Schimon und Jankel. Vor ihnen auf dem Tisch stand eine Kerze, die es kaum schaffte, die Dunkelheit zu erhellen, die heute tiefer zu sein schien als an allen anderen Tagen und das Licht zu ersticken drohte.
    Der Rabbi hatte den Kopf auf die Hände gestützt. »Ausgerechnet in den Tagen der Reue und der Buße ist es geschehen«, sagte er. »Es
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