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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder
Autoren: Mirjam Pressler
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mehr bewegte, hoben sie ihn hoch und trugen ihn laut betend fort. Aber es war nur seine Hülle, die sie mitnahmen, seine Seele hatte ihn verlassen, das hatte ich an seinem Gesicht gesehen, das zwar noch immer dem Gesicht meines Freundes glich, es aber nicht mehr war.
    Ich blieb sitzen, neben Josef, dessen Gesicht ich nicht sehen konnte und auch nicht sehen wollte, und neben den toten Hunden, deren gebrochene Augen mich in der Dunkelheit anstarrten.
    Ich blieb sitzen, trotz des Regens, ich saß auf dem Pflaster und konnte nicht mehr unterscheiden, ob die Nässe auf meinen Wangen von meinen Tränen kam oder vom Regen, ich wollte es gar nicht wissen.
    Ich saß auch noch da, als der Regen aufgehört hatte, als die Wolken zerrissen und ein paar Sterne sich im nassen Pflaster spiegelten, sodass es aussah, als sei der Himmel auf die Erde gestürzt.
    Ich blieb sitzen, da, wo es geschehen war, auch als Jente, mit roten Augen und erschlafften Wangen, mich holen wollte.
    Es muss schon auf Mitternacht zugegangen sein, als der Rabbi mit Jizchak, Schimon und einem halben Dutzend anderer Männer zurückkehrte. Jizchak hielt die Laterne, und die Männer bückten sich und hoben Josef hoch, von dessen starrem Körper die Kleidungsstücke, von den Hunden zerrissen, in Fetzen herunterhingen. Zu sechst wuchteten sie sich die Last auf die Schultern und machten sich auf den Weg zurück, ihre Schritte auf dem Pflaster hallten hohl durch die Nacht. Jizchak, mit der Laterne, ging an der Spitze dieses seltsamen Zugs.
    Der Rabbi neigte sich vor, legte mir die Hand auf den Kopf. »Jankel«, sagte er mit leiser Stimme, »stütz mich, bitte, das Gehen fällt mir schwer.«
    In diesem Moment, glaube ich, kehrte meine Seele in meinen Körper zurück, und ich spürte, dass ich noch am Leben war. Ich erhob mich, dehnte meine steif gewordenen Glieder, strich mir die nassen Haare aus dem Gesicht und schaute meinen Onkel an. »Es ist meine Schuld«, sagte er, »ich hätte es ahnen müssen.«
    »Nein, er hat seinen Tod gewählt«, sagte ich, ohne nachzudenken, selbst überrascht von meinen Worten. »Nein, er ist gestorben wie das stille Jüdel, er hat ausgesehen wie er, er hat sich geopfert wie er.«
    Der Rabbi legte den Arm um meine Schultern und sein Gewicht lastete schwer auf mir. So folgten wir den Männern, die Josef durch die Gassen zur Altneuschul brachten. Jizchaks Lampe erhellte schon den Eingang, da sagte der Rabbi leise: »Du hast recht, wie das stille Jüdel. Man sagt, es habe nach seinem Opfertod in jeder Generation einen gegeben, der seine roten Haare geerbt hat, und alle sollen besondere Menschen gewesen sein, Menschen mit einem großen Herzen und mit dem Mut eines Löwen.«
    Und ich dachte: Er war, wie es von König David gesagt wird, rötlich mit schönen Augen und von guter Gestalt . Und er war mein Freund.
    D ie Männer stöhnten und keuchten, als sie in der Altneuschul angekommen waren. Schimon stieg mühsam die Leiter hoch und stemmte sich gegen die Falltür, und wie morgens, als Jankel sie aufgestoßen hatte, fiel sie laut krachend auf die Dielenbretter des Dachbodens. Das Krachen hallte in der nächtlichen Synagoge nach wie die Trompeten am Tag des Jüngsten Gerichts. Jankel war zusammengezuckt, sein Onkel strich ihm beruhigend über den Rücken. Ziehend und schiebend gelang es den Männern endlich, ihre Last die Leiter hinaufzuwuchten. Jizchak hielt die Laterne tiefer, um dem Rabbi zu leuchten, der schwerfällig und unbeholfen die Sprossen erklomm. Jankel folgte ihm.
    Oben legten die Männer auf Geheiß des Rabbis die starre Gestalt auf den Boden, dann verabschiedeten sie sich mit einem gemurmelten Gruß und verschwanden, zurück blieben außer Jankel nur der Hohe Rabbi, Jizchak und Schimon, die den Golem in die Welt gebracht hatten. Jizchak stellte die Laterne ab, ihr Licht warf flackernde Schatten auf das dunkle Gebälk.
    Der Rabbi fing langsam an zu sprechen: »Damals, als wir den Golem zum Leben erweckten, standen wir zu seinen Füßen, nun geben wir ihn dem Lehm zurück, aus dem er gemacht ist, deshalb werden wir uns hinter seinem Haupt aufstellen und gemeinsam den Satz von der Erschaffung des Menschen sprechen, aber diesmal rückwärts.«
    Das taten sie, und während sie die heiligen Worte sprachen, setzte sich Jankel in eine Ecke, zog die Beine an den Körper und legte den Kopf auf die Knie.
    »Nun umschreite ich den Golem sieben Mal in umgekehrter Richtung«, sagte der Rabbi, »und dabei spreche ich den Segen, den ich euch
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