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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder
Autoren: Mirjam Pressler
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gelehrt habe, rückwärts. Nach mir wirst du es tun, Schimon, und dann du, Jizchak.«
    I ch saß da, den Kopf auf den Knien, und hörte erst die schweren, schleppenden Schritte des Hohen Rabbi Löws und seine raue, alte Stimme, mit der er den Segen rückwärts sprach, dann folgten die langsamen, stetigen Schritte Schimons und seine fließende Stimme und schließlich Jizchak, dessen Schritte kaum den Boden zu berühren schienen, und seine Stimme flackerte wie eine Kerzenflamme.
    Ich hörte sie, aber ich verstand nicht, was sie sagten. Lauter als ihr Gemurmel war Schmuliks Stimme, ich sah ihn vor mir, ich saß wieder mit ihm auf dem nächtlichen Friedhof, vor dem Grabstein Avigdor Karas, des Kabbalisten und Augenzeugen der Gräueltaten, die uns heute durch Josefs Eingreifen erspart worden waren. Ich hörte Schmulik sprechen, der mir von der Erschaffung des Golems erzählte, des Golems, der für mich zu einem Bruder geworden war, und mich überlief der gleiche Schauer wie damals. Hier, auf dem Dachboden der Altneuschul, sehnte ich mich nur nach Schmulik, doch ich ahnte, dass irgendwann auch die Sehnsucht nach Josef in mir erwachen würde. Vielleicht wusste ich es sogar schon.
    D er Rabbi berührte Jankels Schulter, dieser schreckte hoch. »Wir werden ihn jetzt mit den zerschlissenen Tempelbehängen und den alten Gebetsmänteln bedecken«, hörte er seinen Onkel sagen. »Du sollst uns helfen, du sollst es wissen und du sollst ihn ein letztes Mal sehen. Denn morgen werde ich in allen Synagogen und Bethäusern verkünden lassen, dass niemand mehr diesen Dachboden betreten darf. Für immer soll er für die Juden Prags verbotenes Gebiet sein.«
    Jankel erhob sich. Er nahm einen der Gebetsmäntel, mit denen er an diesem Morgen Rochele zugedeckt hatte, und trat zu Josef, dessen Gesicht von Jizchaks Laterne beleuchtet wurde. Es sah so aus wie damals, als er es in der Bodenkammer betrachtet hatte, im Licht der Kerze, ein fahlgelbes, mattes Gesicht, und wie damals war es, als verschwimme es in den Holzdielen des Untergrunds. Die Haut war fahl und glatt, ohne Leberfleck, ohne Pickel, ohne Poren, sie erinnerte eher an getrockneten Lehm, und die an den Rändern ausgefransten Lippen waren ebenso fahl wie das Gesicht und lös ten sich übergangslos in der Haut auf.
    D och während ich ihn anschaute, verschwamm das Bild vor meinen Augen, Josefs Gesicht zerfiel in Falten, seine schwere Nase mit den breiten Nasenflügeln bekam Poren, ihm wuchsen Barthaare und Schläfenlocken, und ich wusste, dass ich in diesem Moment das Antlitz des toten Rabbis vor mir sah. Erschrocken drehte ich mich um, und da stand er vor mir, mein Onkel, breitete die Arme aus und zog mich an sich, und einen Moment lang legte ich den Kopf an seine Schulter, dann war alles wieder vorbei.
    J osef war nur noch ein Haufen Lehm. Jankel bückte sich und deckte sein Gesicht vorsichtig mit einem Gebetsmantel zu.
    Als nichts mehr von Josef zu erkennen war, verließen sie den Dachboden der Altneuschul und Jizchak trug das Bündel mit Josefs Kleidern. Gemeinsam zogen sie die Leiter von der nun wieder geschlossenen Luke weg. »Ich werde die Leiter morgen verbrennen, zusammen mit seinen Kleidern«, sagte Jizchak und der Rabbi nickte.
    Der Wind hatte die Wolken weggeweht, der Himmel war übersät von Sternen und der Mond zeigte sich nur als schmale Sichel. Auch auf dem Heimweg, den sie schweigend zurücklegten, stützte Jankel seinen Onkel. In der Ferne hörten sie die Nachtvögel schreien, und der Himmel, der im Osten heller wurde, zeigte, dass der Morgen nicht mehr weit war.

21. Kapitel
Gut und Böse, Licht und Finsternis
    D er Todesengel lädt zu einem ganz besonderen, einem einmaligen Fest ein, das im Bet Chajim, im Haus des Lebens, gefeiert wird. Über dem Festsaal spannt sich der riesige Baldachin des Himmels und die Welt mit ihren kleinen Kümmernissen und vergänglichen Freuden bleibt ausgesperrt hinter den Mauern. Der Ehrenplatz ist eine offene Grube, in welche der Gastgeber gelegt wird, in ein Tuch aus weißem Leinen gehüllt. Die Luft, die man atmet, ist gesättigt von Trauer und aufgespielt wird eine Melodie aus Weinen und Klagen. Man stillt seinen Durst mit Tränen und seinen Hunger mit all den Worten der Freundschaft, der Liebe und des Dankes, die man nicht ausgesprochen hat und die man nun wieder und wieder kauen muss.
    Sie waren alle gekommen, der Tod hatte sie zusammen geführt. Es dämmerte schon, denn es war die siebzehnte Beerdigung an diesem Tag, siebzehn
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