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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder
Autoren: Mirjam Pressler
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scheint, als wolle der Ewige, gelobt sei er, uns damit ein Zeichen geben und uns zur Umkehr mahnen. Ich sage euch: Der Mensch soll nicht in Sphären eindringen, die über ihn hinausreichen, das ist ein Weg, der in die Hölle führt.«
    Bei diesen Worten hob er den Kopf, und sie sahen, dass er weinte. Das Kerzenlicht flackerte über sein altes Gesicht, und die Tränen liefen über seine Wangen in den Bart und hinterließen glänzende, gewundene Spuren, als fänden sie keinen geraden Weg, als wäre ihr Lauf wie der Irrweg, auf welchem die Seele ihren Weg zu Gott sucht. »Schmulik ist tot«, sagte er, »der Golem hat ihn getötet, aber er war nur ein schuldloses Werkzeug, die Verantwortung muss ich tragen, und ich weiß nicht, ob ich das kann, ob diese Last nicht zu schwer für mich ist.«
    »Rabbi, der Golem hat Tausenden von Menschen das Leben gerettet, vergiss das nicht«, rief Schimon und Jizchak nickte zustimmend und drehte an seinen langen, schwarzen Schläfenlocken.
    Der Rabbi schaute sie der Reihe nach mit einem Blick an, aus dem alle Sicherheit gewichen war. »Wer gibt uns das Recht, das Leben von Menschen gegeneinander aufzurechnen? Die Zukunft ist unseren Augen verborgen, wer weiß, was aus diesem jungen Mann, dessen Leben ausgelöscht wurde, hätte werden können? Welches Geschlecht hätte er zeugen können? Vielleicht sogar den Messias?« Er wischte sich mit der Hand über die Wangen, zerraufte seinen Bart und seine Augen glühten. »Ich frage euch: Wenn der Mensch Leben schafft, nähert er sich Gott oder entfernt er sich von ihm? Ich frage es euch, weil ich die Antwort nicht weiß. Warum gibt uns der Herr die Fähigkeit, etwas zu schaffen, ohne den nötigen Verstand und die Einsicht in die Folgen? Warum lässt er uns Wissen erlangen, ohne dass wir die Gefahren dieses Wissens einschätzen können? Warum lässt er zu, dass wir Gutes wollen und Böses tun?«
    Es wurde still, keiner sagte etwas, nur das Flackern der Kerze war zu hören und das schwere Atmen des Hohen Rabbis, bis Schimon die Stille offenbar nicht mehr aushielt. »Unsere Weisen sagen, dass das Böse nur ein Teil des Guten ist«, sagte er. »Gut und Böse sind ein Prinzip Gottes, ebenso wie Licht und Finsternis.«
    »Ja«, bestätigte Jizchak. »Sie sagen, dass daraus die guten und die bösen Triebe des Menschen erwüchsen. Sie sagen auch, dass wir dem Ewigen, gelobt sei er, mit beiden Trieben dienen sollen, dem guten und dem bösen. Im Buch ›Sohar‹* wird gefragt, wie jemand mit dem bösen Trieb dienen könne, denn ist er es nicht, der den Menschen daran hindert, Gott zu dienen? Die Antwort darauf lautet: Der größte Dienst ist es, durch die Kraft der Liebe den bösen Trieb Gott zu unterwerfen, denn alle Versuchung geschieht durch seinen Willen. Reue und Buße sind in der Sünde enthalten wie das Öl in der Olive, und Reue und Buße sind das Tor zur Rückkehr zu Gott.«
    Doch der Hohe Rabbi schien nicht zuzuhören, er hatte den Kopf wieder auf die Hände gelegt und hob ihn erst, als Jankel fragte: »Warum ist das geschehen? Warum hat Josef angefangen zu wüten?«
    »Ein böser Geist ist in ihn gefahren«, sagte Schimon. »Das Böse ist überall.« Sein rundes Gesicht wurde rot.
    »Nein«, sagte der Rabbi, »das Böse ist in uns. Josef war die Versuchung, doch wir haben nicht erkannt, ob es eine Versuchung zum Guten oder zum Bösen war. Das ist der Vorwurf, den wir uns machen müssen: dass wir die Antwort auf diese Frage nicht wissen, dass wir sie uns überhaupt nicht gestellt haben. Vielleicht war es das Böse, das uns die Sicherheit und den Schutz vorgegaukelt hat, die wir doch nur bei dem finden können, der Himmel und Erde erschaffen hat. Vielleicht war Josefs Wüten seine Ermahnung an uns, dass unser Glaube und unser Vertrauen in ihn, den Herrn über den Anfang und das Ende, nicht groß genug waren.« Er schaute Jankel an. »Verstehst du das?«
    Jankel nickte. Aber er wollte nichts mehr hören, kein einziges dieser Worte, die ihm, verglichen mit der Endgültigkeit von Schmuliks Tod, so flüchtig und bedeutungslos vorkamen. Sein Mund war trocken, die Zunge klebte ihm am Gaumen. Er stand auf, und nur mit Mühe brachte er die Worte heraus: »Ich gehe schlafen.«
    W er zu dem Allmächtigen fleht, er möge Geschehenes ungeschehen machen, dessen Gebet ist vergeblich, so lehren unsere Weisen. Ich kämpfte in dieser Nacht lange mit der Frage, warum dies alles passiert war. Was mein Onkel gesagt hatte, reichte mir nicht. Brauchte er, der alles
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