Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder
Autoren: Mirjam Pressler
Vom Netzwerk:
geschaffen hat, in dessen Hand jedes Leben liegt, auch das des kleinsten Insekts, ausgerechnet Schmuliks Tod, um uns eine Lehre zu erteilen? Ich grübelte und grübelte, und jede Frage gebar neue Fragen, bis mir schwindelte und ich mir am Schluss sagte, dass es Fragen gab, die mein Geist nicht beantworten konnte, und selbst wenn ich die Antworten gewusst hätte, hätte mein Herz sie abgelehnt, und keine hätte mir geholfen, mit meiner Trauer fertig zu werden. Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen. Es wäre mir leichter gewesen, wenn ich hätte weinen können. Aber ich konnte es nicht.

Epilog
    D er Kreislauf ist es, der die Natur bestimmt. So wie nach jeder Nacht ein neuer Morgen beginnt, so wie nach jedem Neumond sich der Mond füllt, bevor er wieder abnimmt, so wie nach jedem Winter der Frühling kommt und die Wälder und Wiesen grün werden und das Korn beginnt zu wachsen, so ist auch das Leben der Menschen. Tag folgt auf Tag, Monat auf Monat und Jahr auf Jahr.
    Drei Jahre und ein halbes waren vergangen, als Jankel an einem Schabbat zum Friedhof ging, um sich von Schmulik zu verabschieden. Die Frühlingssonne schien warm auf die Häuser, die aus dem langen Winter erwachten, Fenster wurden geöffnet, Frauen riefen einander laut und mit fröhlichen Stimmen den Wunsch des Schabbatfriedens zu, Männer kamen aus den Synagogen und Bethäusern und blieben in Gruppen und Grüppchen in den Gassen stehen, ihre Stimmen summten träge und zufrieden durch die Luft und ab und zu hörte man sie lachen.
    Jankel betrat den Friedhof durch die Seitentür und erkannte schon von weitem, dass Fejgele bereits am Grab stand und wartete. Sie trug ihr Feiertagskleid und war schöner denn je. Langsam ging er auf sie zu und blieb in gebührendem Abstand von ihr stehen. Das Gras wuchs grün und frisch zwischen den Steinen und da und dort waren die ersten Blüten zu entdecken. Jankel bückte sich, pflückte ein Veilchen und hielt es ihr hin. Sie lächelte, und in ihren Wangen erschienen die Grübchen, die Schmulik so geliebt hatte.
    »Warum wolltest du dich hier mit mir treffen?«, fragte Fejgele und wurde rot.
    »Ich wollte dir Lebewohl sagen«, antwortete Jankel. »Ich verlasse Prag.«
    Er sah, wie ihre Augen größer wurden, ihre Lippen öffneten sich, als wolle sie etwas sagen, und schlossen sich wieder.
    »Ich verlasse Prag«, wiederholte er. »Es hält mich nicht länger hier. Ich möchte andere Städte sehen, andere Menschen kennenlernen, verstehst du? So wie ich in den letzten Jahren für deinen Vater immer wieder zu den Märkten ging, um Brot zu verkaufen, so werde ich losziehen und Wörter und Sätze verkaufen. Ich werde Geschichtenerzähler.«
    Fejgele senkte den Blick zu Schmuliks Grabstein. »So wie er es auch wollte«, sagte sie, hob den Kopf und schaute ihn an. »Machst du das für ihn?«
    Jankel schüttelte den Kopf. »Nein, er hat mich nur mit seinem Wunsch angesteckt. Seine Worte haben etwas in mir geweckt, das in mir lag, sie waren der Regen für ein Samenkorn, das angefangen hat zu keimen und zu wachsen. Dafür bin ich ihm dankbar. Und ich habe von ihm gelernt, dass man das Erzählen üben kann, auch dafür bin ich ihm dankbar, denn das tue ich. Wenn ich in der Backstube Teig knete, erzähle ich mir Geschichten, wenn ich durch die Stadt gehe, erzähle ich mir Geschichten, und wenn ich abends im Bett liege, tue ich es auch.«
    Eine Witwe ging an ihnen vorbei und warf ihnen einen misstrauischen Blick zu. Jankel und Fejgele grüßten freundlich und warteten, bis sie vor einem Grab unter einem Holunderbusch stehen blieb.
    »Warum willst du weg?«, fragte Fejgele dann. »Brot zu backen ist doch ein ehrenwerter Beruf.«
    Jankel nickte. »Ja«, sagte er, »natürlich ist es das. Aber die Menschen brauchen auch Geschichtenerzähler. Wie Brot Nahrung für den Leib ist, sind Geschichten Nahrung für Herz und Seele, und wenn sie nicht erzählt werden, müssen sie sterben. Geschichten verbinden die Vergangenheit mit dem, was heute ist und was morgen sein wird, sie dringen durch das Ohr in Kopf und Herz und lassen uns innerlich wachsen. Geschichten zu erzählen ist meine Bestimmung, und der Ewige, der dieses Samenkorn in mich gelegt hat, wird mich nicht im Stich lassen. Das hat auch mein Onkel gesagt, als ich ihm meinen Entschluss mitgeteilt habe, er hat mir seinen Segen gegeben.«
    »Und was für Geschichten wirst du erzählen?«
    »Ich weiß schon sehr viele«, sagte Jankel. »Ich bewahre alle, die ich je gehört habe, in meinem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher