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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder
Autoren: Mirjam Pressler
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Herzen, und manchmal erfinde ich neue.« Er zögerte und Röte stieg ihm aus dem Hals ins Gesicht. »Soll ich dir eine erzählen?«
    Fejgele nickte und lächelte und wieder erschienen die Grübchen in ihren Wangen.
    »Hör zu«, sagte Jankel und räusperte sich. »In einer Stadt mit vielen goldenen Türmen lebten einmal zwei Knaben, nennen wir sie David und Jonathan, die einander liebten, wie sich Freunde lieben können und wie sich David und Jonathan in unserem heiligen Buch geliebt haben.
    Es waren sehr arme Knaben, die kaum das Nötigste zum Leben hatten. Als sie heranwuchsen, verliebten sie sich in ein Mädchen, beide, aber Jonathan merkte bald, dass die Liebe Davids tiefer und inniger war als seine, deshalb verzichtete er um seines Freundes willen. Das Mädchen, das sie beide liebten, war die schönste unter allen Töchtern Israels und sie wurde von Tag zu Tag schöner. Auch ihr Herz empfand Liebe zu David, glaube ich, denn er war von angenehmem Äußeren, rötlich mit schönen Augen und von guter Gestalt. Doch das Mädchen war die Tochter eines angesehenen, wohlhabenden Mannes, der für sie natürlich einen reichen, gebildeten Bräutigam suchte, einen Mann, der ihr ein großes Haus und jeden Tag gebratene Hühner und Gänse bieten konnte, deshalb war die Liebe der beiden ohne Hoffnung.
    Eines Tages kam ein fremder Mann in die Stadt. Niemand wusste, wer er war, und niemand kannte seinen Namen, denn er war stumm und konnte ihn nicht nennen. Die Menschen fürchteten ihn, aber weil sie die Gebote des Herrn hielten, gaben sie ihm zu essen und er wuchs und wuchs und wurde immer größer. Sein Schatten fiel auf die Häuser der Stadt, und wenn er durch die Straßen ging, zertraten seine großen Füße Eselskarren und Verkaufsstände. Als er anfing, auch Hunde und Katzen zu zertreten, breitete sich die Angst aus, er könne bald auch Menschen zu Schaden kommen lassen.
    Die Leute berieten sich, wer gegen ihn kämpfen und ihn töten könne, doch keiner wagte es. Nur David war mutig genug. ›Ich habe nichts zu verlieren‹, sagte er zu Jonathan, ›aber alles zu gewinnen. Wenn ich den Riesen besiege, werden sie vielleicht verstehen, dass ich nicht nur ein armer Junge mit roten Haaren bin. Wenn es mir gelingt, die Stadt zu retten, wird ihr Vater mir zum Dank vielleicht das Mädchen geben, das ich liebe.‹
    Jonathan wollte den Freund zurückhalten, doch vergeblich, David war fest entschlossen. Aber er hatte noch einen Wunsch. ›Wenn ich nicht siege, musst du ihr sagen, dass ich sie geliebt habe. Sage ihr, dass vor allem sie es war, die ich retten wollte. Versprich mir das, Jonathan.‹ Jonathan versprach es. David küsste seinen Freund und zog los, um gegen den Riesen zu kämpfen.
    Es war ein fürchterlicher Kampf, einer, der die Erde erzittern ließ und die Häuser zum Beben brachte. Die Menschen versteckten sich und der Lärm des Kampfes war auf der ganzen Welt zu hören. Als es vorbei war und die Menschen hervorkrochen, fanden sie beide tot auf der Erde liegen, David und den Riesen. Sieg und Niederlage sind manchmal nicht zu unterscheiden, sie gehen ineinander über, und keiner weiß, wie er das, was geschehen ist, benennen soll.
    Jonathan aber weinte um seinen Freund, und bevor er ging, erfüllte er sein Versprechen und erzählte der Tochter des wohlhabenden Mannes von der heimlichen und hoffnungslosen Liebe, die David für sie empfunden hatte.«
    Jankel schwieg. Er wagte nicht, Fejgele anzuschauen. Er hörte sie leise weinen, er hörte sie »Lebewohl, Jankel, Gott schütze dich« sagen, und dann hörte er, wie sich ihre Schritte entfernten. Es wurde so still, dass man vom Fluss her das Rauschen des Wassers und das Schreien der Möwen hörte. Nun erst hob er den Kopf und sah, dass er allein auf dem Friedhof war, auch die Witwe war bereits gegangen. Er legte einen Stein auf Schmuliks Grab und verließ ebenfalls den Friedhof, denn ein weiterer Abschied stand ihm noch bevor.
    Langsam ging er zu Frumes Haus und holte Rochele zu einem Spaziergang ab. Die Moldau floss träge und breit in ihrem Bett, voller Wasser von der Schneeschmelze und den Regenfällen der letzten Wochen. Jankel und Rochele setzten sich auf zwei flache Steine am Ufer, vielleicht waren es dieselben Steine, auf denen er einmal mit Schmulik gesessen hatte. Jankele riss ein Blatt von einem Strauch, ließ es ins Wasser fallen und sah zu, wie es sich erst ein paarmal im Kreis drehte, als zögere es, bevor es sich von der Strömung forttragen ließ.
    »Ich gehe
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