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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder
Autoren: Mirjam Pressler
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1. Kapitel
Es steht geschrieben
    D ie Nacht kam früh, wie sie in dichten Wäldern immer lange vor der Zeit kommt. Die Eulen wachten allmählich auf und die Dämmerung nahm zu. Die Angst trieb den Jungen vorwärts. Er stolperte über dicke Baumwurzeln, die wie höllische Schlangen durch das Laub krochen, plötzlich verschwanden und an unerwarteten Stellen wieder auftauchten. Das Rascheln unter seinen Füßen wurde lauter, und sein Bündel, in dem sich nur noch der leere Wasserschlauch befand, schlug bei jedem Schritt gegen seinen Rücken wie eine Geisterhand, die ihn zur Eile trieb. Irgend wo, weit hinter ihm, heulte ein Wolf. Vor ihm, im dunklen Gebüsch, tauchten ein paar helle Flecken auf.
    Der Junge packte das Mädchen, das schlafend über seiner Schulter lag, fester, und lief im Zickzack weiter, um den Schatten auszuweichen, die drohend aus dem Unterholz auf ihn zukrochen. Schon seit einer oder zwei Stunden trug er seine kleine Schwester. Sie hatte angefangen zu weinen, weil ihr die Füße wehtaten, und war, kaum dass er sie aufgehoben hatte, auch schon eingeschlafen. Neben ihm, in einem undurchdringlichen Dickicht, zischte etwas, über ihm schrie ein Käuzchen. Als er schon glaubte, nicht mehr weiterzukönnen und im nächsten Augenblick kraftlos zu Boden zu sinken, wurden die hellen Flecken im Gebüsch vor ihm größer und verheißungsvoller. Mit letzter Anstrengung brach er hindurch und tauchte auf einmal in strahlendes Licht. Hinter ihm, über dem Wald, färbte sich der Himmel bereits, doch die Sonne leuchtete so kraftvoll, als habe sie beschlossen, kurz vor dem Untergehen der Welt noch einmal ihre ganze Macht und Herrlichkeit vorzuführen.
    Der Junge hob vorsichtig das Mädchen von seiner Schulter und ließ es zu Boden gleiten, bevor er mit den Händen die Augen abschirmte, geblendet vom Licht und geblendet von dem Anblick, der sich ihm bot. Unterhalb des Hügels, hinter Wiesen und Feldern, lag zu Füßen der mächtigen, alles überragenden Burg die Stadt, die Goldene Stadt, durch die sich ein silberner Fluss wie eine verzauberte Schlange wand, und hinter ihm lag Mo ř ina 1) , von wo aus er vor vier oder fünf oder auch sechs Tagen aufgebrochen war, er wusste es nicht mehr. Anfangs hatte er die Tage noch gezählt, aber dann war er mit dem Zählen durcheinandergeraten, so wie er sich auch manchmal mit den Wegen geirrt hatte. Am Schluss war es ihm auch egal gewesen, er hatte nur noch daran gedacht, dass er in nordöstlicher Richtung gehen musste, wie seine Tante es gesagt hatte, immer nur nach Nordosten. Und nun lag das Ziel vor ihm.
    1) Der tschechische Ortsname Mor ř ina wird Moschina ausgesprochen und auf der ersten Silbe betont.
    Das Mädchen zu seinen Füßen wimmerte leise. Und wieder schrie das Käuzchen, es klang wie der Hilferuf einer toten Seele. Der Junge, von neuer Kraft erfüllt, bückte sich zu seiner Schwester und zog sie hoch.
    I ch erinnere mich noch genau, wie es war, als ich Prag zum ersten Mal sah. Hinter mir lag Mo ř ina. Hinter mir lag auch der schier unendliche Wald, in dem wir die letzte Nacht verbracht hatten, eine furchtbare Nacht in einer bedrohlichen, mondlosen Dunkelheit. Mir lief ein Schauer über den Rücken, als ich mich daran erinnerte, an das aufkommende Gewitter, an die Blitze, in deren grellem Schein die Bäume wie Dämonen um uns herumtanzten. Wir hatten uns in eine Felsnische geflüchtet, die allerdings nicht tief genug war, um uns wirklich Schutz zu bieten, der Sturm peitschte die Wasserschwaden gegen uns, der Regen schlug uns ins Gesicht und drang durch unsere Kleidung bis auf die Haut. Nass und frierend hielten wir uns umschlungen, und ich betete alle Psalmen, die mir einfielen, um den Schutz des Ewigen zu erflehen. Bei jedem Blitz schrie Rochele auf und klammerte sich noch fester an mich. Ihre dünnen Ärmchen drückten mir fast den Hals zu. Ich streichelte sie und flüsterte, sie brauche keine Angst zu haben, ich sei ja bei ihr, und dabei hatte ich selbst solche Angst, dass ich am liebsten den Kopf in der Erde vergraben hätte.
    Trotzdem war ich froh, nicht allein zu sein. Es war, wie Tante Schejndl immer gesagt hatte: Wenn der Hunger im Bauch deines Kindes heult wie ein Wolf, wird das Knurren deines eigenen Magens so leise wie das Husten eines Flohs. Rocheles Angst heulte so laut, dass ich meine eigene Angst nicht mehr hören konnte. Ich musste für sie sorgen, wie ich es Tante Schejndl versprochen hatte. Ihr und meinem Vater, der irgendwo draußen in der
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