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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder
Autoren: Mirjam Pressler
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Opfer hatte die Prager Judenstadt zu beklagen. Sie standen um das offene Grab, in dem Schmulik lag. Er war in ein weißes Leintuch gehüllt, das seine Haare und die schönen, für immer geschlossenen Augen bedeckte, unter dem sich aber die Konturen seiner guten Gestalt abzeichneten. Riwke, seine Mutter, und Jente, seine Tante, standen so dicht nebeneinander, dass ihre Schultern eine Linie bildeten, sie sahen aus wie zwei erschrockene, dem Leid hilflos ausgelieferte Mädchen, jünger und wehrloser als Schmuliks Schwestern, die, obwohl sie ihr Weinen nicht verbargen, einen viel gefassteren Eindruck machten. Seine Mutter hatte ihr Kopftuch so weit nach vorn gezogen, dass ihre Augen in seinem Schatten kaum zu erkennen waren. Sie und auch Jente, die innerhalb dieses einen Tages um Jahre gealtert zu sein schien, hielten die Köpfe gesenkt und ihre Körper waren starr, nur ihre Hände flatterten wie blasse Vögel vor ihren dunklen Kleidern hin und her, eingesperrt im erbarmungslosen schwarzen Käfig der Trauer.
    Rechts von ihnen stand Perl, die Frau des Rabbis, mit ihrer Tochter Frume, links Malke, die Frau Mendels, mit ihren Töchtern Lea, Gittel und Fejgele. Tante Perl sah hier, unter dem hohen Himmel und neben ihrer großen, kräftigen Tochter, noch zarter und zerbrechlicher aus als innerhalb ihrer vier Wände, und ihr Gesicht war seltsam ausdruckslos, sodass Jankel dachte: Auch sie hat in ihrem langen Leben zu viele Tote gesehen.
    Mendels Frau und ihre Töchter hatten sich dicht zusammengedrängt, als suchten sie beieinander Schutz vor der letzten, endgültigen Wahrheit. Gittel hatte den Arm um ihre Schwester Fejgele gelegt und hörte nicht auf, ihre Schulter zu streicheln. Fejgele weinte und wischte sich ab und zu mit ihren kleinen, bräunlichen Händen die Tränen aus den Augen. Auch ihre Mutter weinte.
    Auf der anderen Seite des Grabs standen die Männer, der Hohe Rabbi mit Jizchak und Schimon inmitten einiger Anhänger, daneben Mendel und Anschel, die sich so mühsam beherrschten, dass ihre Gesichter starren Masken glichen. In ihren dunklen Mänteln und mit den schwarzen Hüten sahen sie unter dem grauen Himmel aus wie Raben, die auf dem abgeernteten Acker des Ewigen standen und manchmal mit den Flügeln schlugen.
    Etwas abseits, zwischen der Gruppe der Männer und der Frauen und getrennt von beiden, stand Jankel, so allein, wie er sich fühlte.
    E s ist wahr, ich stand dazwischen, allein, und nie zuvor hatte ich dieses Dazwischen so stark empfunden. Ich stand zwischen Mo ř ina und Prag, zwischen dem Rabbi, dem Mann des Studiums, und Mendel, dem Mann der Arbeit, ich stand auch zwischen der Kindheit, die vorbei war, und dem Leben als Mann, das ich noch nicht gefunden hatte, ich stand zwischen dem Gestern und dem Morgen und wusste nicht, wie ich das Heute überstehen sollte.
    D er Rabbi trat einen Schritt nach vorn, und seine Stimme war ernst und feierlich, als er das Gebet sprach, das mit den Worten begann: » Der Fels, untadelig ist sein Tun, denn all seine Wege sind gerecht, er ist der Gott der Treue, ohne Fehl, gerecht ist er und gerade .« Dann hob er seine Hände, abwägend, mal die rechte, mal die linke, und fuhr, immer noch mit dieser ernsten, feierlichen Stimme, fort: »Es ist jetzt geschehen, jetzt, in den zehn Tagen der Buße, dass er von uns genommen wurde, Schmuel, der Sohn Ja’akows, welcher ihm vorausgegangen ist in die andere Welt, und Riwkes, die nun ohne den einzigen Sohn, sein Andenken sei gesegnet, weiterleben muss, so wie Dwore und Mirale ohne ihren Bruder leben müssen und Jente ohne den Neffen, den sie so zärtlich liebte wie einen eigenen Sohn.
    Ihr alle, die ihr hier steht und den Tod dieses blühenden jüdischen Bochers beweint, wisset: Schmulik war kein Mann des Studiums, aber er war stark und entschlossen und unbeirrt, ein jüdischer Held, und was er für uns getan hat, wird für immer in unseren Herzen bewahrt bleiben. Er war groß in seinen Taten, dieser Sohn Israels, so wie geschrieben steht: Jeder, dessen Weisheit größer ist als seine Taten, wem gleicht er? Einem Baum, dessen Zweige viel und dessen Wurzeln wenig sind, ein Windstoß kommt und entwurzelt ihn und stürzt ihn auf seine Krone. Doch jener, dessen Taten viele sind, wem gleicht er? Einem Baum, dessen Zweige wenig und dessen Wurzeln viel sind, sodass sogar alle Winde der Welt ihn nicht von seinem Platz bewegen können. Und dieser Platz, Schmuliks Platz, ist im Herzen seines Volkes, Schmulik hat Taten der Liebe vollbracht,
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