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Glencoe - Historischer Roman

Titel: Glencoe - Historischer Roman
Autoren: Charlotte Lyne
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man zum Schlimmsten schwieg?
    »Weiter, weiter.« Sandy Og flehte viel mehr, als er trieb.
    Der Hang hatte kein Ende. Wenn man sich mühsam vier Schritte vorangekämpft hatte und hinaufsah, war noch immer nur Berg da, kein Himmel. Jean war wach geworden, aber sie plapperte nicht und brüllte auch keinen hungrigen Zorn hinaus,wie sie es gewöhnlich tat, sondern japste vor sich hin, als werde ihr die Luft knapp. Mit jedem Schritt hing sie schwerer auf Sarahs Hüfte, und das Ungeborene hing ihr im Bauch.
    Schwäche überfiel sie. Gleich ging es nicht mehr. Nur noch einen Schritt und noch einen. Beim dritten brach Sarah ein, das Gewicht der zwei Kinder zog sie in den Schnee. Sie hörte Sandy Og schreien – »Sarah, Sarah!« –, aber sie hatte nicht die Kraft, ihm zu antworten. Das Gewirbel des Schnees über ihr kreiste und färbte sich schwarz.
    Sie hörte, wie über ihr sein Stock schwang, und erwartete Schmerz, doch der blieb aus. Wieder zischte der Stock und zerschnitt die Luft. Und noch einmal und noch einmal, aber nichts berührte sie. »Ich jag ihn weg«, rief ihr Mann über ihr; er ächzte zwischen den Worten. »Den Tod! Ich schlag ihm die Zähne ein, er holt dich nicht.«
    Sarah ballte die Fäuste, kniff die Augen zu und riss sie auf und war wieder Sarah, die alles sah: das Schneetreiben und zwischen den peitschenden Flocken Sandy Og, der Duncan auf dem Rücken trug und seinen Stock durchs Gestöber hieb. Über seinem Kopf entdeckte sie den Grat, das Weiß, das endete und das Schwarz des Nachthimmels freigab. Auch die Tränen, die über Sandy Ogs entkräftetes Gesicht liefen, sah sie. Sie hielt sich an seinem Bein fest. Versuchte, ihn zu sich zu ziehen, damit er aufhörte, sich zu verausgaben.
    John trat zu ihm. »Die Leute brechen mir zusammen!«, rief er. »Sie können nicht weiter, es ist zu viel, um es auszuhalten.«
    Sandy Og wandte sich ihm zu und rieb sich die Stirn, fand aber sichtlich keinen neuen Gedanken. Sarah hielt sich an ihm fest und hievte sich hoch, sog die eisige Luft in ihre Lungen. »Er war nicht umsonst«, stieß sie heraus und schrie dann noch lauter, damit es alle um sie hörten: »Der Eid war nicht umsonst, denn dass wir im Recht sind, können wir beweisen. Dass sie uns dieses Tal wiedergeben müssen. Unseren Kindern. Darum kämpfen wir.« Sie konnte die Lautstärke nicht halten, abersprach leiser weiter zu John und Sandy Og: »Selbst wenn sie behaupten, ihr wärt zu spät gekommen – ihr könnt beweisen, dass ihr alles versucht habt und dass das, was hier geschehen ist, Unrecht ist. Dass unsere Toten ermordet worden sind, in gutem Glauben, nicht im Krieg gefallen.«
    Auf Sandy Ogs Gesicht regte sich Leben. Er nahm ihr Jean aus den Armen und ging rückwärts weiter, den Hang hinauf, auf den Nachthimmel zu, ohne den Blick von ihr abzuwenden.
    Auch sie wandte den Blick nicht von ihm. »Wir holen uns dieses Tal zurück!«, schrie sie. » Wir sind dieses Tal. Wir und unsere Toten. Wir sind Glencoe !«
    John lief umher und half Menschen auf die Beine. »Wir sind Glencoe!«, schrie er, nahm Eiblin seinen kleinen Sohn ab und hielt ihn in die Höhe, sodass alle ihn sehen konnten. »Das ist der junge Alasdair. Mein Erbe. Wir sind Glencoe!« Jetzt, wo sie es beinahe geschafft hatten, brauchten sie keine Lawine mehr zu fürchten. Sandy Og stand schon mit Duncan und Jean auf dem Grat und wies hinunter auf die andere Seite, wo die Zuflucht liegen musste, Coire Gabhail. »Wir sind Glencoe!«
    Die Berge brüllten zurück.
    Auf dem Grat, vor dem schwarzen Himmel und dem silbernen Gestöber, legte Sandy Og den Kopf in den Nacken und begann zu singen:
    Colins Rinder,
    Meinem Herzen so lieb.
    Colins Rinder
    Geben Milch auf den Hügeln, in der Heide.
    Die Lebenden, die dem Grat entgegenstiegen, nahmen das Lied auf. Sie trugen ihre Toten bei sich und ihre Kinder und ihr Recht. Wir sind Glencoe.
    Ende

Glossar
      
      
    a graidh     gälisches Kosewort, »mein Liebling«, von Verwandten ebenso verwendet wie von Liebespartnern
    an Duine Mor     der große Mann, Figur des Volksglaubens in Glencoe, der der Sage nach bei Nacht in Ballachullish umherstreifte, wenn eine Katastrophe bevorstand
    aosda     Gälisch für »alt«
    Arisaid     weißgrundiges Plaid der Highland-Frauen
    Bannock     rundes Gebäckstück aus Hafermehl, zu Beltane auf im Feuer erhitzten Steinen gebacken, zu Ehren wilder Tiere verspeist und zur Vorausdeutung der Ernte, des Viehtriebs und des Familienlebens
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