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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar
Autoren: Sascha Reh
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etwas, dachte Carmen, das Valerie noch nie hatte ertragen können.
    »Das ist Bernhard gegenüber nicht fair, Valerie.«
    »Komm, hör mir auf mit   fair «, sagte, nein, spuckte sie aus. »Du hast dich doch   verkauft   an den.«
    Carmen fühlte, dass sie ihre Tochter liebte, immer geliebt hatte, und wie sehr Valerie ihre Liebe brauchte – wenn sie sich nur nicht so verzweifelt dagegen wehren würde. Warum? Das begriff Carmen nicht, hatte es noch nie begriffen. Doch inzwischen, nach all den Jahren, verstand sie, dass sie längst keinen Einfluss mehr auf sie hatte. Ihr Kind war erwachsen geworden, und trotz Valeries schwerer Krankheit –   gerade   deswegen – traf sie längst ihre eigenen Entscheidungen, ob sie nun gerecht oder ungerecht sein mochten. Sie musste endlich loslassen, so schmerzlich es auch war.
    »Ich bin niemandem hinterhergelaufen, Valerie, und ich habe mich auch nicht verkauft. Weißt du, ich kann sehr gut verstehen, wenn du nicht über dich und Thomas sprechen möchtest –«
    »Was hat das denn jetzt damit … hä? … Man kann überhaupt nicht mit dir   reden .«
    Carmen stand auf und ging zu Valerie hinüber. Sie strich ihr zärtlich über die Wange und sagte: »Es tut mir so leid, dass du das glaubst, Valerie. Ich liebe dich doch. Ich möchte nur, dass es dir gutgeht.«
    Aber Valerie drängte sich an ihr vorbei und setzte sich mit verschränkten Armen und angezogenen Beinen wieder aufs Bett.
    »Manchmal denke ich«, sagte Carmen leise, »dass alles vielleicht anders wäre, wenn wir … eine richtige Familie gewesen wären. Wenn Manuel …«
    »Ich will darüber nicht reden«, sagte Valerie, ohne aufzusehen.
    »Ja«, sagte Carmen und öffnete die Tür.
    »Was soll das denn überhaupt heißen?«, rief Valerie hinter ihr her. »Was   erzählst   du mir denn da? Willst du damit sagen, dass du was bei ihm gutmachen musst? Willst du mir das damit sagen?«
    Sie wusste, dass es sinnlos war. Valerie lebte in einer Welt, die sie mit niemandem teilte. Es war ihre Diagnose, und niemand, auch eine Mutter nicht, hatte die Macht, gegen eine Diagnose anzukämpfen. »Das stimmt nicht, Valerie.«
    »Ich hab ihm seine Familie kaputtgemacht, oder was? Das willst du mir doch damit sagen, oder? Und du musst jetzt dein ganzes Leben lang auf Knien hinter ihm herkriechen und jede einzelne Scheißscherbe aufsammeln? – Gott, bin ich froh, dass ich ne Therapie gemacht habe, solltest du auch mal drüber nachdenken. Aber lass dich bloß wegschließen!«
    Carmen lächelte, denn sie wusste, wie hilflos diese Angriffe in Wahrheit waren. »Du trägst keine Schuld, Valerie.«
    Jetzt war Valerie aufgesprungen; sie stand auf dem Bett. »Hast du jetzt mit Gott telefoniert, oder was?«
    »Ich will doch nur, dass du glücklich …«
    »Halt die Fresse!«
    »Valerie …«
    » HALT   DIE   FRESSE ! Raus! Verschwinde!« Es war ein vertrautes Bild: Sie benahm sich wie eine Verrückte. Wie eine Besessene. » ICH   WILL ,   DASS   DU   MICH   ENDLICH   IN   RUHE   LÄSST ,   DU   FOTZE !«
    Carmen blieb ruhig; sie wusste, dass dies nicht mehr ihre Tochter war. Sie drehte den Knauf und ging hinaus. Die sich leise schließende Tür schnitt Valeries Schluchzen ab. Die ganze Zeit über hatte Carmen in ihrer Tasche den Schlüssel umklammert gehalten.
    Nachdem sie den Koffer und Bernhards Reisetasche geholt hatte, fuhr sie mit dem Aufzug hinunter und ging vom Treppenhaus nicht in die Lobby, wo sie Bernhard noch mit Thomas beim Frühstück hörte, sondern steuerte auf Strümpfen den Hinterausgang an. Dort streifte sie die Pumps über, trat auf den Hof hinaus und erreichte den Mercedes, der dort geparkt stand. Sie verstaute Koffer und Tasche auf dem Rücksitz und setzte sich dann ans Steuer des Mercedes. Sie ließ sich tief in den Sitz sinken, steckte den Schlüssel ins Zündschloss und wartete.

4
    Ein Werbeslogan nahe der Zufahrt zum Grenzübergang empfahl:   It’s time to find a new direction . Er gehörte zur Reklame für eine spanische Jobagentur. Durch das offene Fenster roch sie den frischen Seewind; aus irgendeinem Grund musste sie an Monte Carlo denken, das sie zweimal zum Grand Prix der Formel 1 besucht hatten, untergebracht im exklusiven Hotel Fairmont, von dem sie die bezaubernde Küste und Bernhard die Haarnadelkurve sehen konnte, unterlegt von infernalischem Lärm. Dort vorne war die Grenze. Zweimal hatte ihr Telefon geklingelt, Thomas und Valerie, natürlich; sie stellte sich vor, wie die beiden
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