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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar
Autoren: Sascha Reh
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tobten, besonders Thomas. Sie hatte das Telefon ausgeschaltet. Es gab jetzt nur noch sie und Bernhard, der eingeschlossen im Kofferraum des Mercedes lag, vollkommen abhängig davon, dass sie ihn sicher zwischen Scylla und Charybdis dieses Abenteuers hindurchnavigierte. Sie trug die Verantwortung, niemand sonst. Und sie hatte nicht vor, diese Chance leichtfertig zu verspielen.
    »Bekommst du genug Luft?«, fragte sie. Der Autokorso vor der Grenzstation wand sich die Avenida Príncipe de Asturias entlang um eine langgezogene Verkehrsinsel zwischen den beiden Fahrspuren, bevor man nach einer Kopfwende die Strecke wieder in entgegengesetzte Richtung zurückfahren musste. Sie kamen nur zentimeterweise voran.
    »Bernhard?« Er antwortete nicht. »Bernhard, sag doch was. Kriegst du Luft dahinten?« Ein langgezogener Laut war zu hören, etwas wie ein Stöhnen; dann war es wieder still. Jetzt war sie sicher, dass etwas nicht stimmte.   Es ist nur die allzu menschliche Angst vor dem letzten Schritt , sagte sie sich. Sie schluckte ihre Panik hinunter und lockerte den Griff um das Lenkrad.
    »Bernhard, es geht dir gut«, sagte sie laut. »Ich weiß es. Es ist alles in Ordnung!«
    Es waren grauenhafte Minuten. Der Wagen schob sich nur um wenige Zentimeter voran; die Grenzbeamten verrichteten ihre Kontrollen in aller Gemütlichkeit, hielten ein Fahrzeug nach dem anderen an, um es dann doch gelangweilt durchzuwinken. Nach einer Ewigkeit, in der sich die verschiedensten Gedanken und Befürchtungen in ihrem Kopf überlagert hatten (was würden die Beamten mit ihr anstellen, wenn sie eine männliche Leiche ohne Papiere in ihrem Wagen fänden), erreichte sie die Grenzstation. Eben trat zum Schichtwechsel ein anderer Beamter seinen Dienst an, und dieser ließ die Fahrzeuge, statt sie zu überprüfen, eins nach dem anderen durchfahren. Carmen, dankbar, war nie so empfänglich für gute Omen gewesen wie in diesem Moment.
    Hinter dem Rollfeld und einem Fußballplatz, der daran angrenzte, bog sie bei der ersten Möglichkeit links in die Devil’s Tower Road ein und hielt hinter einer Reihe geparkter Autos. Sie riss die Tür auf, lief um den Wagen herum und öffnete den Kofferraum. Bernhard lag mit verschränkten Armen auf dem Rücken und grinste sie an; den Kopf hatte er mehr oder weniger bequem auf den Benzinkanister gebettet.
    »Sind wir da?« Aus seinem Blick konnte sie nur schließen, dass er die ganze Zeit über um ihre Panik gewusst haben musste.
    »Oh, du«, sagte sie; doch ihre Erleichterung wusch allen Ärger sofort beiseite. Der Anzug, den sie vor ihrer Weiterfahrt bei einem Herrenausstatter in La Línea gekauft hatten, war vollkommen zerknittert, gar nicht davon zu reden, dass er ohnehin nicht besonders gut saß und Bernhard aussehen ließ wie einen zweitklassigen Vertreter. Aber es war nicht zu ändern; es musste gehen.
    Nachdem er sich neben sie gesetzt hatte, fädelte sie sich auf der Winston Churchill Avenue in den Verkehr, der nun, nach dem Schichtwechsel der Grenzer, in unablässigem Strom von Spanien herüberkam und nur dadurch plötzlich abgeschnitten wurde, dass weit hinter ihnen ein Flugzeug zur Landung ansetzte.
    »Weißt du eigentlich«, fragte er, »was für ein grausamer Tod das ist, ersticken? Das geht ganz langsam und qualvoll.«
    Sie antwortete nicht.
    »Ist ja auch egal«, sagte Bernhard und sah aus dem Fenster. »Da vorne gibt’s gute Fritten.«
    »Schön.«
    »Weißt du, Leute, die ersticken, die machen richtig Alarm. Schreien rum, wenn sie noch Luft genug haben, trommeln sich die Fäuste blutig, treten gegen die Wände. Manche kacken sich in die Hose. Und du meinst, ausgerechnet ich krepiere dahinten ganz still und friedlich vor mich hin? Was ist das eigentlich zwischen deinen Ohren? Wo andere ihr Gehirn haben? Da vorne musst du übrigens rechts.«
    Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, die sich unter ihrem Stirnband befreit hatte. »Ich muss das hier nicht tun, weißt du?«
    »Stimmt«, sagte er. »Seh ich auch so. Du kannst mich da an der Ecke rauslassen.«
    »Wohin willst du gehen, wenn du … fertig bist? Ohne Papiere? Du sprichst nicht mal die Sprache, Bernhard. Ich frage mich, was du ohne mich anfangen willst?«
    »Fällt mir schon was ein.«
    »Sieh dich doch an. Wem willst du etwas vormachen? Ich frage mich, warum es dir so schwerfällt, meine Hilfe anzunehmen. Hast du vergessen, was ich dir im Méridien gesagt habe? Und danach?« Sie hielten an einer Ampel. Mit einem Mal spürte sie,
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