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Gefährliche Stille

Gefährliche Stille

Titel: Gefährliche Stille
Autoren: Marcia Muller
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Überraschung, und er ließ mich ein.
    »Sharon! Was machst du denn hier? Ist
doch schon nach Mitternacht.« Im Sprechen schlang er den Gürtel seines
karierten Bademantels fester; sein dichtes, graues Haar, normalerweise immer
perfekt frisiert, stand kreuz und quer in die Gegend. Sein Gesicht war hager,
und er wirkte viel älter als bei meinem letzten Besuch im Frühjahr.
    Ich sagte: »Ich muss mit Ma reden.«
    »Was ist los? Ist noch jemandem was...«
    »Nein, nichts dergleichen. Bitte,
kannst du ihr sagen...«
    »Mir was sagen?« Meine Mutter erschien
in der gefliesten Diele, ihren rosa Samtmorgenrock am Hals zusammenhaltend. Ihr
kurzes blondes Haar war so tadellos in Form, als wäre sie auf dem Weg zu einer
Abendeinladung und nicht gerade eben von einem mitternächtlichen Besuch aus dem
Bett gescheucht worden. Ihr Gesicht wirkte jugendlich straff. Ich fragte mich
kurz, ob sie irgendeine Methode gefunden hatte, Melvin die Vitalität aus dem
Leib zu saugen.
    »Ma, wir müssen reden.«
    Sie kam heran, legte mir die Hand auf
den Arm und sah mich ängstlich an. »Oh, du bist ja wesentlich aufgeregter, als
du am Telefon geklungen hast!«
    Ich sah auf ihre Hand. Die hatte gar
nichts Straffes, und der Kontrast zu ihrem Gesicht verriet mir noch etwas, was
Ma mir verschwiegen hatte: Sie hatte sich liften lassen. »Jawohl, ich bin
aufgeregt«, sagte ich. »Wir müssen uns hinsetzen und reden.« Ich sah ostentativ
in Richtung Wohnzimmer.
    Ma nickte und fragte Melvin: »Könntest
du Kaffee machen, Schatz?«
    Ich sagte: »Ich will keinen Kaffee.«
    »Tja, aber ich brauche welchen. Komm
mit.« Sie ließ meinen Arm los, ging ins Wohnzimmer und machte Licht.
    Sie hatte das Wohnzimmer seit dem
Frühjahr renoviert und neu eingerichtet, in Rosa, Flieder und Creme, alles
aufeinander abgestimmt und gefällig arrangiert. Ganz anders als das wenig
elegante, aber gemütliche Sammelsurium, in dem ich aufgewachsen war. Als ich
mich auf dem Sofa niederließ und zusah, wie sie sich in den gegenüberstehenden
Sessel setzte und die Beine zierlich unterschlug, wurde mir klar, dass das
nicht die Mutter war, die ich in Erinnerung hatte. Die Frau, die so gern in
ihrer Küche riesige Mengen von Essen gekocht und mit bloßen Händen in ihrem
Gemüsegarten gewühlt hatte, war verschwunden; an ihrer Stelle war da jetzt eine
etwas spröde Dame, die man sich am ehesten im Country Club vorstellen konnte,
beim Lunch oder bei einer gemächlichen Runde Golf. Selbst ihren Kosenamen Katie
hatte sie zum mondäneren Kay aufgepeppt. Eine gründliche Metamorphose für ihr
neues Leben, und ich fragte mich jetzt, was an ihrem alten so schlecht gewesen
war. »Sharon«, sagte sie, »was hat dich in diesen Zustand versetzt?«
    Ich stellte meine Umhängetasche auf den
Tisch und entnahm ihr die Kopie des Adoptionsantrags. »Das hier.« Ich hielt das
Blatt hoch, und sie starrte mit zusammengekniffenen Augen und gerunzelter Stirn
darauf. Als sie es erkannte, wurde sie blass. »Wo hast du das her?«, flüsterte
sie.
    »Aus einem Karton mit Dokumenten, in
der Garage. Pa hatte John gesagt, im Fall seines Todes solle ich das ganze Zeug
durchgucken.«
    Zornesröte stieg Mas Hals hinauf. »Oh,
du verdammter Trottel, Andy! Schau, was du angerichtet hast!«
    »Er ist tot, Ma. Du brauchst nicht mehr
auf ihn zu schimpfen.«
    »Verstehst du denn nicht? Er hat es so
arrangiert, dass du das da finden musstest. Er wollte seit Jahren, dass du’s
erfährst, hatte aber nicht den Mut, es dir zu sagen. Also hat er wie immer den
bequemen Weg gewählt.«
    »Und du? Hast du nicht den bequemen Weg
gewählt, indem du’s mir gar nicht gesagt hast?« Gott, wie ich diesen
weinerlichen Kleinmädchenton hasste.
    Sie schüttelte den Kopf, legte die
Fingerspitzen an die Lippen.
    »Habt ihr euch eingeredet, ihr müsstet
mich schützen? Wovor?«
    »Sharon, bitte, rühr nicht daran.
Vernichte dieses Dokument und vergiss, dass du’s je gesehen hast.«
    »Ich kann’s nicht einfach vernichten!
Ich kann’s nicht einfach vergessen. Wer bin ich, Ma? Wer war Baby Girl Smith?«
    »Das kann ich dir nicht sagen.«
    »Kannst du nicht, oder willst du
nicht?«
    »...Beides.«
    Die Verletztheit und Wut, die ich
mühsam in Schach gehalten hatte, brachen sich Bahn. »Verdammt, Ma, ich muss es
wissen!«
    »Tut mir Leid, Sharon. Es gibt Dinge,
die... du nicht verstehst.«
    »Was ich verstehe, ist nur, dass ihr
beide, du und Pa, mich angelogen habt: diese Lügengeschichte, dass ich aussehe
wie Urgroßmama; dieser ganze
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