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Gefährliche Stille

Gefährliche Stille

Titel: Gefährliche Stille
Autoren: Marcia Muller
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Quatsch mit den Genen. Durch euer Schweigen habt
ihr mich mein ganzes Leben lang belogen! Und zwar nur, um euch selbst zu
schützen.«
    »Es hat nichts mit Lügen zu tun...«
    »Oh, doch, hat es. Das Einzige, was ihr
mir mit eurer gutkatholischen Erziehung wirklich einzuhämmern vermocht habt,
ist, dass man nicht lügen darf. Verflixt, für die Kirche ist Lügen sogar eine
Sünde. Was habt ihr gemacht, wenn ihr beichten wart? Dem Priester gestanden,
dass ihr eure Tochter permanent angelogen habt?«
    »Bitte, hör jetzt auf damit.«
    »Haben John und Joey es auch gewusst
und mich auch belogen? Und die Verwandtschaft — war die auch an der
Verschwörung beteiligt? Wie viele Leute haben’s noch gewusst und für euch
gelogen?«
    »Hör auf.« Sie senkte den Kopf und
hielt sich die Ohren zu.
    Ich wurde lauter. »Du kannst nicht
einfach ausblenden, was du nicht hören willst. Nicht, wenn es die Wahrheit ist.
Und jetzt, wo ich’s rausgefunden habe, muss ich wissen, wer meine Eltern waren,
warum sie mich weggegeben haben, warum ihr mich adoptiert habt.«
    Melvin erschien mit erschrockener Miene
im Türbogen. Ich schüttelte den Kopf, bedeutete ihm mit einer Handbewegung, er
möge verschwinden. Er blieb stehen, den Blick auf meine Mutter geheftet.
    Sie sah auf, das Gesicht
schmerzverzerrt, und trotz meiner Wut fühlte ich eine Woge von Liebe und
Mitleid in mir aufsteigen. Aber dann wurden ihre Lippen schmal und angespannt,
und ich sah, wie sich eine wohl vertraute eherne Entschlossenheit in ihren
Augen formierte. »Nein, das musst du nicht wissen«, sagte sie. »Baby Girl Smith
hat vier Tage nach ihrer Geburt zu existieren aufgehört. Du bist Sharon McCone.
Ich bin deine Mutter. Andy war dein Vater. Wir haben dir ein Heim gegeben, dich
ernährt und gekleidet — und geliebt. Das sollte doch wohl genügen!«
    »Es genügt mir aber nicht, jetzt nicht
mehr! Ma, ich liebe dich; stoß mich nicht weg. Versuch nicht, mir die Wahrheit
vorzuenthalten. Und erzähl mir um Himmels willen nicht noch mehr Lügen.«
    »Ich liebe dich auch. In mancherlei
Hinsicht haben dein Vater und ich dich mehr geliebt als unsere eigenen Kinder.«
    Unsere eigenen Kinder.
    Es fühlte sich an wie eine Ohrfeige.
    Ma merkte, wie ihre letzten Worte
geklungen hatten, und warf einen panischen Blick zu Melvin hinüber, der immer
noch im Türbogen wachte. »Sharon, ich hab’s nicht so...«
    »Oh, doch. Du hast es so gemeint.« Ich
stand auf.
    »Geh nicht!« Sie machte Anstalten, sich
zu erheben, aber da war ich schon an Melvin vorbei und auf dem Weg zur Tür. Als
ich sie öffnete, sah ich mich noch mal um. Sie hatte die Hände zu einer
flehenden Geste erhoben, und als ich nicht reagierte, flackerte ihr Blick und
senkte sich dann.
    Erst als ich den Freeway entlangraste,
wurde mir klar, was ich in diesen letzten Sekunden in Mas Augen gesehen hatte.
    Sie hatte Angst.

2 Uhr 47
     
     
    »Ich hab’s nicht gewusst!«, sagte John.
    »Du musst es gewusst haben! Was
dachtest du denn, wo Ma mich herhatte? Sie war doch gar nicht schwanger.«
    »Shar, ich war acht...«
    »Und du wusstest garantiert, wo die
Babys herkamen. Mas gutkatholische Freundinnen waren doch jedes Jahr
schwanger.«
    Wir standen uns wie zwei Kampfhähne
gegenüber, im Wohnzimmer seines Hauses in Lemon Grove, wo ich ihn gestellt
hatte, nachdem ich in blinder Wut kreuz und quer durch San Diego gefahren war.
Als ich ohne anzuklopfen hereingestürmt war, hatte er gerade den Telefonhörer
aufgelegt. Ma, sagte er, habe seit meiner Abfahrt aus Rancho Bernardo schon dreimal
angerufen, jedes Mal ein klein wenig mehr von der Story herausgerückt und ihn
schließlich angefleht, mich zu finden und zu beruhigen.
    Stattdessen machte er mich nur noch
wütender. »Los doch, nur zu — lüg mir noch ein bisschen mehr vor! Aber das hier
lügt nicht.« Ich wedelte mit dem Adoptionsantrag unter seiner Nase herum.
    »Hör auf!« Er schnappte mir den Antrag
aus der Hand und packte mich an den Schultern, wobei er das Papier
zerknitterte. »Du bist sauer auf Ma, aber die ist nicht hier, also lässt du’s
an mir aus. Hör jetzt auf.«
    Ich versuchte mich loszureißen, aber er
hielt mich so fest, dass es wehtat. In seinen Augen flackerte Zorn — und Angst.
Das hier war mein Bruder, den ich liebte, nur dass er nicht wirklich mein
Bruder war, und jetzt, wo ich dieses Papier gefunden hatte, standen wir uns als
zwei Fremde gegenüber. Vielleicht sogar als Feinde.
    Meine eigene Angst überschwemmte mich
und brach als
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