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Gefährliche Stille

Gefährliche Stille

Titel: Gefährliche Stille
Autoren: Marcia Muller
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Tränenflut hervor. John zog mich an sich, strich mir übers Haar
und ließ mich heulen, und nach einer Weile merkte ich, dass er ebenfalls
weinte. Ein Teil meiner Wut verflog. Ich trat einen Schritt zurück und
betrachtete ihn, während er nach einem Papiertaschentuch kramte. »Wir sind
vielleicht ein jämmerlicher Anblick«, sagte ich. »Allerdings. Ich weiß nicht,
wies dir geht, aber ich könnte jetzt einen Drink vertragen.«
    Ich nickte geistesabwesend. Das Zimmer
schien auf einmal so eng und heiß, und ich war völlig aus dem Gleichgewicht.
Ich fuhr mir mit der Hand über die Stirn, fühlte Feuchtigkeit. »Ich kann nicht
hier drinnen bleiben.«
    »Wir reden draußen. Ich komme gleich
nach.« Als ich mich nicht rührte, scheuchte er mich mit einer Handbewegung weg.
»Geh schon!«
    Ich ging, blieb am Fuß der Treppe
stehen und sah mich um. An der Flanke des Hügels, auf dem Johns kleines gelbes
Haus stand, war eine alte, splittrige Bank, die er und Joey vor Jahren von
einer Bushaltestelle geklaut hatten. Als ich mich darauf sinken ließ, fühlten
sich meine Gliedmaßen bleiern an, und ich hatte einen Vorgeschmack davon, wie
es sein würde, eine alte Frau zu sein.
    Die Nacht war klar und kalt. Unter mir
leuchteten die rosa angehauchten Straßenlaternen der stillen Wohngegend und des
nahen Stadtteils Encanto. Die Silhouetten der Yucca-Palmen am Hang, mit ihren
zueinander hingeneigten dicken Blätterbüscheln, sahen aus wie Wesen, die ihre
struppigen Köpfe zusammenstecken. Ein paar Gärten weiter schrie eine Katze.
Eine andere antwortete. John kam mit zwei Gläsern heraus, drückte mir eins
davon in die Hand, setzte sich und legte ein Blatt zwischen uns auf die Bank.
Der Adoptionsantrag, den er, so gut es ging, glatt gestrichen hatte. Ich nahm
ihn nicht an mich; stattdessen hob ich mein Glas und schnupperte daran.
Bourbon, mein Stammgetränk, ehe ich beschlossen hatte, mit den harten Sachen
kürzer zu treten. Der erste Schluck versengte mir die Kehle, der zweite fühlte
sich gut an. Vielleicht würde ich mich betrinken und die ganze Geschichte
einfach auslöschen.
    »Okay«, sagte ich nach einem Weilchen,
»du hast’s nicht gewusst. Aber du musst doch etwas geahnt haben.«
    »Na ja, am Anfang hab ich mich
gewundert, dass du nicht so aussahst wie Joey und ich. Und als dann Charlene
zur Welt kam, hab ich angefangen, Fragen zu stellen. Ma und Pa fuhren diese
Erklärung auf, dass du mehr von Urgroßmamas Genen geerbt hättest als wir
anderen, und später gab es dann in Bio Vererbungslehre, die mehr oder weniger
bestätigt hat, dass so was möglich ist.«
    »Und das war’s? Danach hast du dich
nicht mehr gewundert?«
    »Doch, klar. Vor allem, als wir dann
anfingen, selbst Kinder zu kriegen. Ich meine, Karen und ich, wir hatten unsere
drei, Charlene ihre sechs, Patsy ihre drei. Bei keinem von ihnen kam je ein
rezessives Gen zum Vorschein. Und außerdem bist du auch noch in anderen Dingen
anders.«
    »Zum Beispiel?«
    »...Du bist fleißig. Zielstrebig.
Ehrgeizig. Du hattest auf der High School hervorragende Noten, hast dir selbst
das College finanziert, dir ein Haus gekauft, eine eigene Firma gegründet. Du
hast wirklich was aus deinem Leben gemacht.«
    »Und ihr nicht? Mr. Paint ist eine der
erfolgreichsten Handwerksfirmen im Land. Charlene macht nächstes Jahr ihren
Abschluss in Betriebswirtschaft, und Patsy ist inzwischen an zwei Restaurants
beteiligt.«
    »Ja, aber auf der anderen Seite ist da
Joey. Manchmal scheint es mir ein Wunder, dass er sich überhaupt irgendwie
ernähren kann. Und bei uns Übrigen hat sich die richtige Arbeitsmoral erst spät
eingestellt. Bei dir war sie immer schon da. Du hast nie solchen Mist gebaut
wie Joey und ich.«
    »Na ja, damals war es für Mädchen nicht
gerade üblich, zu klauen oder in Kneipenschlägereien zu geraten.«
    »Nein, aber du hast auch nicht mit
jedem Typ gebumst, der dir über den Weg gelaufen ist, wie Charlene. Du bist
nicht von zu Hause weggelaufen und an Drogen geraten wie Patsy.«
    »Vielleicht hab ich diese Dinge nur
nicht so ins Extrem getrieben wie sie.«
    »Hey, ich bin dein großer Bruder. Ich
will nicht hören, was du gemacht hast.«
    Ich sah ihn ernst an. War er noch mein
großer Bruder, oder hatte das Dokument dieses Verhältnis annulliert? Dann sagte
ich: »Hast du nie gedacht, falls ich adoptiert wäre, hätte ich ein Recht, es zu
wissen?«
    »Ich hab ein paarmal drüber
nachgedacht, ja. Aber was sollte ich machen? Ich hatte ja keinen Beweis, und du
bist
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