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Der Olivenhain

Der Olivenhain

Titel: Der Olivenhain
Autoren: Courtney Miller Santo
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1.
    Ankunft
    A n na Davison Keller wollte der älteste Mensch der Welt werden. Sie fand, dass ihr diese Ehre zustand, denn sie hatte auf den Körper, den Gott ihr geschenkt hatte, immer sehr gut aufgepasst. Jeden Tag machte sie ein kleines Drama aus ihrem Morgengebet und kniete direkt nach dem Aufstehen nieder, denn man wusste ja nie, ob Gott gerade zusah. Sie redete ganz offen mit ihm, wenn sie ihn bat, an die einhundertzwölf Jahre, die sie nun schon am Leben war, noch ein paar Tage dranzuhängen und das Mark in ihren Knochen und den Saft in den Eingeweiden nicht versiegen zu lassen. Anna sprach zwar nicht offen aus, dass den lästigen Chinesen, der ihr den Titel abspenstig machen wollte, der Schlag treffen solle, doch nach all den Jahren kannte Gott sie sicher gut genug und würde das in ihrem Herzen lesen.
    Der Sommer hatte sich ungewöhnlich lang hingezogen, das ganze Tal wirkte jetzt welk und verdorrt. An diesem frühen Novembermorgen war es drückend schwül, obwohl die Sonne noch nicht aufgegangen war. Während sich Anna im Dunkeln anzog, stupste ihr Terrier Bobo sie schon ungeduldig in die Fersen, um sie zur Tür zu lotsen. Die Zeit vor Sonnenaufgang gehörte ihr ganz allein, und sie brauchte diese Ruhe, um die übrige Zeit des Tages freundlich zu ihrer Tochter und ihrer Enkelin sein zu können, die mit ihr in dem gepflegten Haus lebten. Viele hielten die drei Frauen für Schwestern. Anna fand das blödsinnig, aber so waren die jungen Leute eben: Über Sechzigjährige waren für unter Dreißigjährige alle gleich alt – steinalt.
    Sie hatte keine Lust auf den Marmeladetoast, den sie sich aus Gewohnheit geschmiert hatte, und plötzlich fiel ihr auf, wie viel Zeit sie mit derlei sinnlosen Handgriffen vergeudete. Lustlos biss sie einmal hinein, dann warf sie Bobo den Rest hin und trat hinaus auf die Veranda auf der Rückseite des Hauses. Schon seit Tagen war sie unruhig wegen des angekündigten Besuchs eines Doktors. Als Genforscher war er sehr an Anna und ihren Nachfahren interessiert. Soweit sie es verstanden hatte, hoffte dieser Doktor, den Schlüssel zur Langlebigkeit zu finden, der sich anscheinend irgendwo in den Genen bestimmter Leute versteckte, die er Super Ager nannte. Anna hielt das für die müßige Suche nach dem Heiligen Gral, doch das behielt sie lieber für sich, denn aus ihrem Mund klang das irgendwie lächerlich.
    Gottlob kam er heute endlich, denn das Warten hatte sie davon abgehalten, sich um die lebenserhaltenden Dinge zu kümmern, wie zum Beispiel Schlafen. Letzte Nacht war sie sogar von wilden Träumen heimgesucht worden, mit undeutlichen Bildern von Nabelschnüren und dem Gesicht einer Frau, die sie nicht genau erkennen konnte. Auch ihr Appetit hatte gelitten, und immer, wenn sie versuchte, etwas zu essen, schäumte ihr die Magensäure hoch bis in die Kehle. Sie brauchte dringend Ablenkung, deshalb nahm sie sich heute früh die Oliven vor.
    Die Wiese hinunter zum Hain lag noch grau und nass vom Tau in der ersten Dämmerung. Anna lehnte sich über das Geländer und blickte Bobo nach, der die Stufen durchs hohe Gras zu den Olivenplantagen hinunterlief. Es war noch ziemlich dunkel, die Bäume waren kaum zu erkennen, doch sie hörte den Nordwind durch die Blätter rascheln. Sie schürzte die Lippen. Eine besorgte Stimme murmelte in ihr: Mach dich auf zur Nachlese, an den Bäumen hängen noch viele pralle Oliven, die bald platzen werden. Hunderte von Früchten fallen bei jedem Windhauch von den Zweigen und verrotten am Boden – ein wahres Festmahl für Schädlinge!
    Solche Gewissensbisse plagten sie nach jeder Erntesaison. Die Pflücker ernteten etwa neun Zehntel der Früchte, doch Anna hasste Verschwendung. Diese Sparsamkeit lag vermutlich in der Familie. Wie war das noch mal? Jeder echte Schotte würde beim Anblick des Eiffelturms fragen, welcher Idiot all den guten Stahl vergeudet hatte. Sie zog die Galoschen über ihre Stiefel und leerte den Korb aus, in dem das Feuerholz lagerte. Wenn sie es nicht machte, würde sich niemand um die Nachlese kümmern. Sie hoffte inständig, eines Tages wenigstens einen einzigen Baum vollständig abzuernten, auch wenn das aussichtslos war.
    Am Fuße des Hügels wurde sie von Bobo überschwänglich begrüßt. Sie bückte sich, um ihn zu streicheln. Als sie sich aufrichtete, merkte sie plötzlich, dass sie von diesem Novembermorgen abgedriftet war in die Erinnerung an etwas, das sich vor über hundert Jahren zugetragen hatte. Manchmal überlagerten sich
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