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Gefährliche Stille

Gefährliche Stille

Titel: Gefährliche Stille
Autoren: Marcia Muller
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meinem Brustbein
war ein krampfartiger Schmerz. Bilder zuckten durch meinen Kopf: nichts
Großartiges, lauter kleine Dinge.
    Pa, wie er an meinem sechsten
Geburtstag eine Schaukel aufbaut. Das Strahlen auf seinem geröteten Gesicht,
als ich bei einer Familien-Bowlingpartie meinen ersten Strike erziele. Seine
Fotos von uns, auf denen er’s immer schafft, irgendeinen wichtigen Körperteil
abzuschneiden. Das schelmische Blitzen in seinen Augen, während er schlüpfrige
Volkslieder singt, von denen er weiß, dass sie Mutter auf die Palme bringen.
Das Schlüsselkettchen mit dem selbst gemachten Intarsienanhänger, das er mir
voller Stolz schenkt, als ich ein eigenes Haus habe.
    Es dauerte ein Weilchen, bis ich in der
Lage war, den Karton aus dem Fenster zu halten und die Asche davonfliegen zu
lassen.
    Als ich mich wieder zu John drehte, sah
ich ihn zu meiner Überraschung mit sicherer Hand fliegen. Er lächelte mich an
und sagte: »Danke.«
    »Gern geschehen.«
    Ich ließ ihn noch ein paar Minuten
weiterfliegen. Ehe ich übernahm, um wieder aufs Land zuzuhalten, wackelte er
zweimal mit den Tragflächen, als Tribut an Pa und Grandpa.
     
     
     
     

19 Uhr 10
     
     
    Ich legte den Hörer auf und stieß einen
tiefen Erleichterungsseufzer aus. John, der am anderen Ende des Wohnzimmers in
Vaters Haus im San Diegoer Stadtteil Mission Hills saß, fragte: »Wie reagiert
Ma?«
    »Traurig. Gedämpft. Aber sie hat
trotzdem jede Menge Dinge gefunden, auf denen sie herumhacken kann.«
    »Lass mich raten: Warum Pa nicht
einfach beerdigt werden konnte wie ein ganz normaler Mensch? Warum du nicht bei
ihr und Melvin wohnst statt in diesem leeren Haus? Warum wir zulassen, dass
Nancy sich seine gesamte irdische Habe unter den Nagel reißt?«
    »Das und mehr.« Ich setzte mich zu John
auf das schäbige Sofa, nahm mein Weinglas vom Lampentischchen, wo er es
hingestellt hatte.
    »Und was hast du gesagt?«
    »Dass Pa nun mal kein normaler Mensch
war und somit wohl kaum auf normale Weise zur letzten Ruhe gebettet werden
konnte. Dass ich nicht oben in Rancho Bernardo wohnen wollte, weil ich hier
Dinge zu erledigen habe. Dass Nancy verdient hat, was immer sich hier noch
findet, weil sie’s mit ihm ausgehalten hat.« Nancy Sullivan war die Frau, mit
der Pa die letzten Jahre mehr oder minder zusammengelebt hatte — sei es in
ihrer Wohnung in La Jolla, sei es in seinem Airstream-Wohnanhänger, irgendwo
unterwegs. In dem Haus in Mission Hills war er kaum noch gewesen, außer zum
Werkeln in der umfunktionierten Garage, wo er gestorben war.
    »Und was hat Ma darauf gesagt?«
    »Danach hab ich sie ausgeblendet.«
    »In einem Punkt hat sie allerdings
Recht: Warum willst du hier wohnen? Das Haus ist ganz schön deprimierend,
jetzt, wo die meisten Möbel weg sind. Wo hast du denn letzte Nacht geschlafen?
Auf der Couch hier?«
    »Ja. So übel ist sie gar nicht.« Und
außerdem hatte ich mich hier ungestört meinem Schmerz hingeben können.
    »Na ja, aber heute Nacht solltest du
mal mein neues Bettsofa ausprobieren.«
    »Geht nicht. Ich will anfangen, die
Kartons in der Garage durchzugucken, damit ich Mittwoch oder Donnerstag wieder
nach Hause fliegen kann. Letzte Woche habe ich zwei wichtige Klienten an Land
gezogen; auf die muss ich ein Auge haben.«
    »Kann Hy das nicht machen?«
    »Das Verwaltungstechnische ist nicht
sein Gebiet.« Hy war Teilhaber der Unternehmenssicherheitsfirma Renshaw
& Kessel International und spezialisiert auf exotischere Dinge, wie
beispielsweise Geiselnahmeverhandlungen.
    John stand auf und ging in die Küche,
um sich noch ein Bier zu holen. Als er wiederkam, musterte ich unsere
Spiegelbilder in der dunklen Scheibe der Tür zum Garten. Wir waren so
verschieden: er blond, kräftig gebaut und stupsnasig, ich dunkel und schlank,
mit scharf geschnittenen Gesichtszügen, in denen aus unerfindlichen Gründen die
Gene meiner Urgroßmutter durchschlugen, die eine Shoshonin gewesen war. Ich war
die Einzige von uns fünfen, die Mary McCones indianisches Aussehen geerbt
hatte. Kein Wunder, dass ich mich immer schon als ein merkwürdiger Fremdkörper
in einer ohnehin merkwürdigen Familie gefühlt hatte.
    »Das mit den Sachen, die Nancy gekriegt
hat«, sagte John. »Das ist doch nur, weil Ma sauer darauf ist, dass er nach der
Scheidung eine Neue gefunden hat.«
    »Warum? Sie hat doch Melvin vor der Trennung gefunden.« Melvin Hunt besaß eine Kette von Münzwaschsalons, und
Ma hatte ihn kennen gelernt, als sie einen davon
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