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Die Jungfernbraut

Titel: Die Jungfernbraut
Autoren: Catherine Coulter
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PROLOG
    Vere Castle, Grafschaft Fife, Schottland, 1807
    Er starrte aus dem schmalen Fenster auf den Schloßhof hinab. Es war April, aber von Frühling war weit und breit noch nichts zu bemerken, abgesehen vom prächtig blühenden purpurfarbenen Heidekraut. Schottisches Heidekraut glich den Menschen, die hier lebten; es gedieh sogar auf kargem Felsgrund. An diesem Morgen waren die Steinwälle nebelverhangen; es schien ein grauer, nasser Tag zu werden. Durch das Fenster im zweiten Stock des nördlichen Rundturms konnte er seine Leute deutlich hören — die alte Marthe, die gluckend Körner für die Hühner ausstreute, und Burnie, der aus voller Lunge seinen Neffen Ostle, den neuen Stallburschen, anbrüllte. Er hörte auch den O-beinigen Crocker drohen, daß er seinem faulen Köter George II das Fell gerben würde; allerdings war allgemein bekannt, daß Crocker den Hund abgöttisch liebte und jeden umbringen würde, der auch nur ein Wort gegen George II sagte. Der Morgen hörte sich genauso an wie alle anderen, die er seit seiner Kindheit erlebt hatte. Alles schien völlig normal.
    Aber das war nicht der Fall.
    Er wandte sich vom Fenster ab, ging zu dem kleinen Steinkamin und streckte seine Hände den Flammen entgegen. Dies hier war sein privates Arbeitszimmer. Sogar sein verstorbener Bruder Malcolm hatte das stets respektiert und sich ferngehalten. Trotz des trägen Feuers war es warm im Zimmer, denn die dicken Wandteppiche aus Wolle, die seine Urgroßmutter gewebt hatte, waren ein ausgezeichneter Schutz gegen Kälte und Feuchtigkeit. Ein herrlicher alter Aubusson-Teppich lag auf dem abgetretenen Steinboden, und er wunderte sich, daß sein verschwendungssüchtiger Vater und sein genauso nichtsnutziger Bruder diesen wertvollen Teppich übersehen und nicht verhökert hatten; immerhin hätten sie mit dem Erlös bestimmt mindestens eine Woche lang ihrer Spielleidenschaft frönen oder herumhuren können. Wie durch ein Wunder waren Teppich und Wandbehänge noch hier; aber ansonsten gab es im Schloß kaum noch Wertgegenstände. Über dem Kamin hing ein sehr mitgenommener alter Gobelin mit dem Wappen der Kinrosses und dem Wahlspruch:
    Verwundet, aber unbesiegt.
    Er selbst war fast tödlich verwundet. Er steckte in enormen Schwierigkeiten, und es gab nur einen einzigen Ausweg: so schnell wie möglich eine reiche Erbin zu heiraten. Dazu verspürte er nicht die geringste Lust. Lieber hätte er eines von Tante Arleths Stärkungsmitteln geschluckt.
    Aber ihm blieb keine Wahl. Der Schuldenberg, den sein Vater und sein Bruder ihm hinterlassen hatten, war gewaltig und trieb ihn zur Verzweiflung. Auf ihm ruhte jetzt die ganze Verantwortung, denn er war der neue Earl of Ashburnham, der siebte Graf, und er steckte bis zum Halse in finanziellen Nöten.
    Wenn er nicht rasch handelte, würde alles verloren sein. Seine Leute würden verhungern oder emigrieren müssen. Sein Schloß würde weiterhin verfallen, und seine Familie würde nur vornehme Armut kennen. Das durfte er nicht zulassen. Er betrachtete seine Hände, die er noch immer dem Feuer entgegenstreckte. Es waren kräftige Hände, aber würden sie kräftig genug sein, um den Kinross-Clan der beklemmenden Armut zu entreißen, die nach 1746 auch das Schicksal seines Großvaters gewesen war? Ah, aber sein Großvater war ein schlauer Fuchs gewesen, der sich den neuen Gegebenheiten rasch angepaßt und bei den wenigen mächtigen Grafen, die in Schottland übriggeblieben waren, eingeschmeichelt hatte. Außerdem hatte er im Gegensatz zu vielen anderenStandespersonen erkannt, wie zukunftsträchtig Fabriken waren, und so hatte er jeden Groschen, den er in die Hände bekam, in die Textil- und Eisenfabriken investiert, die in Nordengland aus dem Boden schossen. Der Erfolg hatte seine kühnsten Träume bei weitem übertroffen, und als er in hohem Alter starb, war er mit sich sehr zufrieden gewesen. Daß sein Sohn ein Taugenichts war, der Vere Castle schnell wieder herunterwirtschaften würde, hatte er nicht erkannt.
    Verdammt, was war denn schon eine Ehefrau, speziell eine englische Ehefrau? Wenn er wollte, konnte er sie einfach in eines der moderigen Zimmer einsperren und den Schlüssel wegwerfen. Er konnte sie nach Herzenslust prügeln, falls sie stolz und unnachgiebig sein sollte. Kurz gesagt, er konnte mit einer verdammten Ehefrau alles tun, was ihm in den Sinn kam. Vielleicht würde er ja auch Glück haben, und sie würde gefügig sein wie ein Lamm, dumm wie eine Kuh und genügsam wie die
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