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Für alle Fragen offen

Titel: Für alle Fragen offen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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merkwürdig: Alle wurden in eine Scheune kommandiert, Enzensberger auf eine kleine Anhöhe gesetzt. Die Zuhörer durften es sich auf dem Heu bequem machen. Nach einer stimmungsvollen Pause ging es los: Enzensberger las langsam und pointiert. Es war sehr still, um nicht zu sagen andächtig. Jedenfalls war es ziemlich feierlich.
    Hans Werner Richter beobachtete das Auditorium etwas misstrauisch, zumal den damals noch lebenden Franz Joseph Schneider, der auf einer mitgebrachten Luftmatratze lag. Dieser Schneider war zwar ein schwacher Autor, wurde aber aus zwei Gründen besonders geschätzt: Erstens hatte er Humor, und zweitens vermochte er von Zeit zu Zeit in einer Frankfurter (ich glaube amerikanischen) Werbefirma, in der er arbeitete, etwas Geld für die Gruppe 47 zu organisieren. Richter wusste, dass dieser Schneider oft zu Schabernack aufgelegt war, was, unter uns, den Tagungen der Gruppe nicht schadete.

    Plötzlich überraschte uns, schon während der Lesung, ein lauter Knall. Franz Joseph Schneider hatte aus seiner Matratze die Luft rausgelassen. Richter, dem dieser Vorfall nicht unwillkommen war, gab gleichwohl ein herrisches Zeichen, man solle doch wieder ernsthaft sein. Enzensberger nickte dankbar und las weiter.
    Alle befürchteten oder erhofften einen Skandal. Plötzlich brach Enzensberger die Lesung ab, ich glaube, mitten im Satz. Er sagte ganz ruhig: »Das hat keinen Zweck. Ich lese schon über eine halbe Stunde. Das soll eine Komödie sein. Aber noch niemand hat gelacht. Machen wir Schluss damit.« Es war wieder ganz still, es war eine Stille des Respekts.
    Richter fragte, wer etwas sagen wolle. Es meldete sich Wolfgang Hildesheimer, der mit Enzensberger befreundet war und ruhig erklärte, diese wohl unter dem Einfluss der Dreigroschenoper entstandene Komödie sei total missraten. Alles ging normal weiter. Die Komödie wurde nie gedruckt oder gar aufgeführt. Den Titel habe ich vergessen.
    Seitdem ist viel Zeit verstrichen. Hans Magnus Enzensberger wird noch manches schreiben, er wird uns noch manch eine
Überraschung bereiten. Doch sein Lebenswerk lässt sich jetzt überblicken. Knapp und klar: Ein Dramatiker ist er nicht, ein Romancier ebenfalls nicht.
    Doch halte ich ihn für einen guten Lyriker? Hier meine Antwort: für einen der vorzüglichsten unter den lebenden Dichtern deutscher Zunge. Und auch als Essayist ist er einer der besten, der intelligentesten. Ob in Versen oder in essayistischer Prosa – er ist ein wunderbarer Stilist mit einem scharfen Blick für die unterschiedlichsten Phänomene des Zeitgeistes. Er gehört zu den wenigen Autoren, die die deutsche Literatur nach 1945 zu prägen imstande waren.

    Wie beurteilen Sie den literarischen Wert von Joseph von Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts?
    Aus dem Leben eines Taugenichts gehört zu den bedeutendsten und schönsten Werken Eichendorffs, ja, der deutschen Romantik. Nur selten wurde das Lebensgefühl der Romantik so klar und anschaulich wiedergegeben wie in diesem Prosawerk, in das auch einige der berühmten Gedichte Eichendorffs aufgenommen wurden.
    Eichendorff war und ist einer der beliebtesten Dichter in der Geschichte der deutschen Literatur. In seiner oft volksliedhaften Lyrik ist der Wortschatz nicht sehr groß, seine Motive wiederholen sich. Aber der Ton seiner Poesie ist unverwechselbar, die Musikalität ihrer Sprache immer wieder erstaunlich.

    Wie erklären Sie sich den außerordentlichen Erfolg von Ernest Hemingway in Deutschland?
    Ernest Hemingways Technik des Aussparens und des Auslassens, sein scheinbar simpler und in Wirklichkeit raffinierter Lakonismus und die Prägnanz und Präzision seiner Ausdrucksweise wurden von den Feinschmeckern zu Recht bewundert. Aber seine Prosa blieb auch jenem Publikum verständlich, das eher Trivialliteratur gewohnt war. Den unbedarften Lesern machte er es leicht, den Anspruchsvollen ersparte er ästhetische Gewissensbisse. So konnte Hemingway beides zugleich werden: der Thomas Mann der kleinen Leute und der Karl May der großen Snobs. Doch in keinem anderen Land Europas, traf er auf so spontane Gegenliebe wie in Deutschland, und zwar sowohl in den Jahren vor Hitler – die ersten Übersetzungen seiner Bücher waren in deutscher Sprache erschienen (1928 Fiesta und 1929 der Geschichtenband Männer ohne Frauen) – als auch vor allem nach 1945. Worauf ist das außergewöhnliche Echo zurückzuführen?
    Zunächst einmal: Nach verlorenen Kriegen liest sich Hemingway gut. Denn er
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