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Für alle Fragen offen

Titel: Für alle Fragen offen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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sagte er knapp: »Ich glaub an gar nichts.« Diese Rebellion war sich selbst genug, sein Werk ist enragiert, doch niemals engagiert.
    Es ist eine alte Wahrheit: Im Grunde kennt die Literatur nur zwei große Themen – die Liebe und den Tod. Doch die Liebe vermochte den Schriftsteller Thomas Bernhard nie zu interessieren, er wollte sich nicht mit ihr beschäftigen. Gewiss, er hat seinen Großvater, von dem er betreut und erzogen wurde, geliebt; und auf seine vertrackte Weise liebte er auch viele Jahre lang eine erheblich ältere Frau, die er seinen »Lebensmenschen« nannte – und wiederum handelte es sich um eine Person, von der er betreut wurde. Aber er war ein Nicht-Erotiker, das Sexuelle gab es in seinem Leben kaum oder überhaupt nicht. Er selbst hat dies in einem Fernsehinterview
unmissverständlich als eine Folge jener schweren Krankheit gedeutet, an der er als Achtzehnjähriger beinahe gestorben ist.
    Er war denn auch, in dieser Hinsicht mit Franz Kafka vergleichbar, kein Dichter der Liebe. Ja, nicht einmal der Sehnsucht nach Liebe, vor der sich Kafka, wie wir aus seinen Briefen an Felice und an Milena wissen, ein Leben lang verzehrte – Bernhard kannte sie nicht, jedenfalls ist sie in seinem Werk nicht zu sehen und nicht zu spüren. Frauen spielen in diesem Kosmos nur eine untergeordnete Rolle, sie sind, zumal in seinen früheren Büchern, verkrüppelte und böswillige Menschen.
    Ein Leben also ohne Erotik? Nicht einmal ein Gott konnte und wollte sich damit abfinden. Aus Jupiters Mund (in Kleists Amphitryon ) kommt die Klage: »Ach Alkmene! Auch der Olymp ist öde ohne Liebe.« Bernhard, der Einsame und Unglückliche, dem das Leben so viel versagt und verweigert hat, der kein Sänger des Mitleids war, vielmehr ein Dichter der Verstörung und der Zerstörung, des Verfalls und des Zerfalls, der Auflösung und der Auslöschung, auch er, der Unbarmherzige und der Unerbittliche, der ohne Grausamkeit nicht auskommen konnte und der bei
der Grausamkeit Schutz suchte vor der Welt, auch er war, je älter er wurde, desto mehr auf Herzlichkeit, auf Zuneigung angewiesen.
    In seinem Spätwerk ist manch eine Figur in ein milderes und freundlicheres Licht getaucht. Doch sind es in diesen Büchern beinahe immer Männer, die er zärtlich betrachtet und liebevoll zeichnet, in der Regel Künstler und Intellektuelle, die wie er zu den Verdammten und zugleich zu den Auserwählten gehören. In ihnen entdeckt Thomas Bernhard seine Brüder.

    Ist nicht die gescheiterte Existenz des Pnin spannender als Vladimir Nabokovs Lolita?
    Nicht ich bin berühmt, sagte Vladimir Nabokov, Lolita ist es. Auch in Deutschland, wo man sich mit dem Werk Nabokovs sehr viel Mühe gegeben hat, konnte bloß die skandalumwitterte Lolita eine hohe Auflage erzielen, wozu die beiden Verfilmungen – von 1962 und 1997 – wahrscheinlich viel beigetragen haben. Sollte etwa Nabokovs Prosa für die Leser der Unterhaltungsliteratur viel zu anspruchsvoll und für die anspruchsvollen Leser zu unterhaltend sein?
    Pnin ist, wie manch ein humoristischer Roman, eine epische Charakterkomödie. Sie bezieht ihre Wirkung meist aus der zentralen Figur, über die sich die Mitmenschen lustig machen. Da beinahe alles von dem Porträt des unheroischen Helden abhängt, verliert die Handlung an Bedeutung. Von höchster Bedeutung ist hingegen der düstere Untergrund der Komödie, der Schatten, der auf ihr liegt. Ein wenig überspitzt: In der Komödie kommt es auf das Tragische an. Eine Komödie ohne Tragik ist wie ein Witz ohne Pointe.

    Auch im Pnin geschieht wenig und vorwiegend Belangloses. Nabokov zeigt ihn in verschiedenen, doch so gut wie immer alltäglichen Situationen. Sie machen sofort seine Lächerlichkeit erkennbar, aber auch seine Integrität und Würde. Wer ist nun dieser Pnin, der seit 1940 in den Vereinigten Staaten lebt und dort in den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts an einem Kleinstadtcollege Russische Sprache und Literatur lehrt?
    Er entstammt einer gebildeten, einer offenbar glücklichen Familie. Auch Pnin war zunächst, vermute ich, ein durchaus glücklicher Mensch. Aber die Weltgeschichte wollte es anders. Geboren im Jahre 1898, wie sein Autor in St. Petersburg, wurde er natürlich vom neunzehnten Jahrhundert geprägt. Solange es währte, war ihm das Schicksal günstig – und es dauerte in Russland bis zu jenem Machtwechsel im Herbst 1917, der später von der kommunistischen Propaganda zur größten Revolution der Menschheit erklärt wurde. Er
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