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Für alle Fragen offen

Titel: Für alle Fragen offen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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kämpft gegen die Bolschewiken und flieht nach Konstantinopel. Das Exil verschlägt ihn schließlich auf die andere Erdhalbkugel. Es ist eine Wanderung ohne Ende.

    Pnin – das ist zunächst einmal ein Roman über die Emigration. Pnin ist ein Geschöpf der Welt, in die er hineingeboren wurde – nur kommt sie ihm abhanden. Seine russische Identität ist sein Glück und sein Verhängnis. Assimilieren kann er sich nicht: Er ist in Amerika, was er schon in Konstantinopel, in Prag und Paris war – ein Ausländer, zur Einsamkeit verurteilt, ein kurioser Fremdling.
    Das Exil macht aus ihm einen lebenden Anachronismus: Wie er ein Europäer in Amerika bleibt, so auch ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts inmitten des zwanzigsten. Er versucht das Autofahren zu erlernen – mithilfe der Encyclopedia Americana , in der er mit wachsendem Interesse Abbildungen von Getrieben und Bremsen studiert. Allerdings schreiben wir das Jahr 1954, die Abbildungen stammen aus dem Jahr 1905.
    Also ein zerstreuter Professor? Der Ich-Erzähler bestreitet es: »Die Welt war es, die zerstreut war, und es war Pnins Sache, sie wieder einzurenken.« Gemeint ist jene Formel, auf die Schriftsteller gern zurückgreifen, wenn es darum geht, den leidenden Intellektuellen vor eine ihn überfordernde Aufgabe zu stellen. Es ist unser geliebter Prinz von Dänemark, der,
nachdem ihn sein toter Vater in eine heikle Situation gebracht hat, lauthals klagt: »Die Zeit ist aus den Fugen; Schmach und Gram, / Dass ich zur Welt, sie einzurichten, kam!«
    Ist Pnin, dieser ständige Versager, ein Opfer der Weltgeschichte? Natürlich kann er die Welt nicht wieder einrenken, was ja auch dem dänischen Prinzen nicht gelungen ist. Indes haben Hamlet und Pnin mehr miteinander gemein, als es zunächst scheinen will. Beide sind sie weltfremde Intellektuelle. Aber Hamlet scheitert an dem Widerspruch zwischen dem Gedanken und der Wirklichkeit. Bei Pnin haben wir denselben Widerspruch, doch taucht er nur noch als Parodie auf.
    Dieser Roman kennt keine These und keine Botschaft, von irgendeiner Lösung ganz zu schweigen. Wenn es hier ein zentrales Motiv gibt, dann ist es die Tragödie des Intellektuellen im zwanzigsten Jahrhundert, gezeigt am Beispiel des politischen Emigranten. Aber es widerstrebt Nabokov, Derartiges direkt auszusprechen.
    Pnin ist ein Narr aus dem Geschlecht des Fürsten Myschkin, dieses Gütigen, den man nicht davon abbringen konnte, die Menschen zu lieben. Wir kennen ihn aus dem Roman
Der Idiot von Dostojewski, den die lesende Menschheit bewundert und den Nabokov verachtet. Er, Pnin, kommt nicht auf die Idee, jemanden übers Ohr zu hauen.
    Aber immer wieder wird er überlistet: Oft ist es seine Intelligenz, die ihm ein Bein stellt. So muss er sich in Amerika mit der Bahn in eine andere Stadt begeben. Er studiert den Fahrplan und findet tatsächlich eine Verbindung, die günstiger ist als die ihm empfohlene. Zwölf Minuten wird er sparen, er ist zufrieden mit sich selbst. Nur ist sein Fahrplan fünf Jahre alt und nicht mehr gültig. Kurz und gut: Professor Pnin befindet sich im falschen Zug. Seit er nicht mehr in Russland lebt, ist unser Hamlet im falschen Zug.

    Halten Sie Hans Magnus Enzensberger für einen guten Lyriker? Oder doch eher für einen Essayisten, der sich mitunter ins Gedicht verläuft?
    Lassen Sie mich mit einer Anekdote beginnen: Die 23. Tagung der Gruppe 47 fand im Oktober 1961 im Jagdschloss Göhrde in der Lüneburger Heide statt. Die vorangegangenen Tagungen dieser wichtigsten und originellsten deutschen Schriftstellervereinigung nach 1945 hatten ein starkes Echo. Der letzte Preisträger war 1958 Günter Grass gewesen.
    In der Göhrde werde man, wurde gemunkelt, wiederum Sensationelles zu hören bekommen. Was konnte das sein? Eigentlich nur irgendeine ganz aus dem Rahmen fallende Lesung. Ein bekannter Autor, hieß es, sollte ein Bühnenwerk vortragen, eine Komödie. Die werde – wie die meisten deutschen Komödien – wahrscheinlich schlecht sein.
    Erst an Ort und Stelle erfuhr man, was der Chef der Gruppe, der glänzende Organisator Hans Werner Richter, geplant hatte: Der junge Hans Magnus Enzensberger, der in den letzten Jahren mit zwei Lyrikbänden ( verteidigung der wölfe und landessprache ) schnell anerkannt
worden war und der dann die deutsche Öffentlichkeit mit einem Essayband ( Einzelheiten ) geradezu verblüffte, jedenfalls beeindruckte, wollte sich vor den strengen Juroren der Gruppe 47 als Dramatiker bewähren.
    Es begann sehr
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