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Für alle Fragen offen

Titel: Für alle Fragen offen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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zeigt,
dass sich das Individuum erst in der Niederlage bewähren kann, er feiert die Würde des Gescheiterten, er preist die moralische Überlegenheit des Besiegten. Er verkündet: »Die Welt zerbricht jeden, und nachher sind viele an den zerbrochenen Stellen stark.«
    Die urdeutsche Verbindung von Heldentum und Innerlichkeit hat keiner der großen ausländischen Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts so schlackenlos und so überzeugend zu bieten gehabt wie Hemingway: Der fluchende Poet und feinfühlende Raufbold sang die alte Weise von Liebe und Tod mit heiserer Stimme, die derb männlich tönte und doch der Zartheit nicht entbehrte.
    Überdies konnten die deutschen Leser bei Hemingway wiederfinden, was sie seit ihrer Jugend kannten, zumal jene Ideale, die ihnen ihre Erzieher oft genug als die wichtigsten gepredigt hatten. Seine fremde und bisweilen exotische Welt erwies sich doch als altvertraut. Auch hier wurden Disziplin und Selbstdisziplin verherrlicht, auch hier wurde der Ehrenkodex mit dem Ethos der Pflichterfüllung verbunden. Recht preußisch klingt, was der amerikanische Erzähler mit einer elegischschnoddrigen Diktion schmackhaft machte.

    Zugleich kehrten bei Hemingway jene Schiller’schen Moralvorstellungen wieder, die längst zu Büchmann-Zitaten zerronnen waren, doch hier mit verfremdeter Kulisse und in verfremdendem Tonfall eine neue Attraktivität gewannen. Das gilt ebenso für die Rebellion gegen das »tintenklecksende Säkulum« wie für das Loblied auf die Treue (»Sie ist doch kein leerer Wahn«), auf die Einsamkeit der wahren Helden (»Der Starke ist am mächtigsten allein«) und ihre Selbstlosigkeit (»Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt«).
    Auch der am häufigsten zitierte Satz aus der Erzählung Der alte Mann und das Meer (»Man kann vernichtet werden, aber man darf nicht aufgeben«) findet sich schon bei Schiller. Und haben nicht die meisten Protagonisten Hemingways etwas mit dem edlen, kühnen und enttäuschten Karl Moor gemein, der sich in die Wälder zurückzieht?
    Hemingways Abneigung gegen große Worte und seine Vorliebe für den kaltschnäuzigen Ausdruck waren in Deutschland in den Jahren der Neuen Sachlichkeit höchst willkommen und entsprachen nach 1945 erst recht einem allgemeinen Zeitbedürfnis. Diejenigen, die von Politik nichts mehr wissen wollten und
von nationaler Phraseologie genug hatten, begrüßten ein Werk, das vollkommen unpolitisch war und keinerlei nationale Tendenzen hatte. Diejenigen, die an die überkommenen Werte nicht mehr glauben wollten, bewunderten Helden, die eine eigene Ethik anstrebten und sich an einen eigenen Ehrenkodex hielten. Diejenigen, die ihre Ideale eingebüßt hatten, fanden bei ihm neue Ideale, die leicht akzeptierbar waren, weil sie den alten sehr ähnelten, nur auf ungleich höherer literarischer Ebene offeriert wurden.

2
    Mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens
    Fragen, die mich in Rage versetzen

    Joachim Ringelnatz wird meist auf seine komischen, seine satirischen Gedichte reduziert. Seine ernsten Texte sind hingegen weitgehend in Vergessenheit geraten. Was halten Sie von Ringelnatz?
    Das ist eine ärgerliche Frage. Was soll hier das Verbum »reduziert«? Offenbar soll es andeuten und suggerieren, dass die komischen Gedichte von Ringelnatz schwächer und auf jeden Fall weniger wichtig sind. Wir haben nicht viele Humoristen und Satiriker und können glücklich sein, dass es einen solchen Kerl wie Ringelnatz gegeben hat. In allen ordentlichen Anthologien ist er stark vertreten und natürlich vor allem mit seinen Kabaretttexten, seinen Satiren und Humoresken. Es empfiehlt sich, diese Texte sehr aufmerksam zu lesen – und es wird sich herausstellen, dass sie sehr ernst sind. Man hüte sich, das Heitere, das scheinbar nur Lustige zu unterschätzen.

    In Ihren wunderbaren Memoiren Mein Leben schreiben Sie so geheimnisvoll wie prickelnd über Ihre Begegnung mit Lilli Palmer. Für die Palmer als Schriftstellerin hingegen finden Sie kein Wort. Was denken Sie über Lilli Palmers Werk?
    Bisweilen geht es mir schon auf die Nerven, dass ich mich in dieser Rubrik immer wieder rechtfertigen muss. Ja, in der Tat: Ich habe nicht alle in den letzten sechzig Jahren erschienenen Bücher gelesen, nicht einmal alle wichtigen. Als Filmschauspielerin hat mich Lilli Palmer sehr beeindruckt, unter anderem – um nur ein Beispiel anzuführen – in der Lotte in Weimar . Von ihren Büchern kenne ich lediglich ihre Lebenserinnerungen Dicke
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