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Für alle Fragen offen

Titel: Für alle Fragen offen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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bereiten« – wäre dafür nicht besonders das Lustspiel zuständig? Durch Shakespeare und Molière in vorzüglicher Weise. Welche Lustspiele in deutscher Sprache erfüllen Ihres Erachtens diesen Anspruch?
    Die Behauptung, dass es keine oder nur ganz wenige Lustspiele in deutscher Sprache gebe, ist eine schon mehr als einmal widerlegte Legende. Es langweilt mich, noch einmal Minna von Barnhelm und den Zerbrochenen Krug aufzuzählen, Grabbes Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung und Grillparzers Weh dem, der lügt!, Raimunds Alpenkönig und Menschenfeind und Der Verschwender , Nestroys Lumpazivagabundus , Der Talisman und Der Zerrissene , Hofmannsthals Der Schwierige . Reicht das vorerst? Oder muss ich noch an einige Lustspiele und »Volksstücke« beispielsweise von Ödön von Horváth erinnern?
    Wahr ist freilich, dass die Zahl der bedeutenden deutschen Tragödien ungleich größer ist als die der Komödien. Das ist in der antiken griechischen Literatur genauso gewesen wie bei Shakespeare. Unser Schiller
hat überhaupt keine Komödien geschrieben.
    Aber dem Leser ist zugleich ein ganz anderer Irrtum unterlaufen. Offensichtlich meint er, mit dem Vergnügen, das literarische Werke bereiten sollten, sei gute Laune gemeint, Heiterkeit und Fröhlichkeit. Indes sollte das Publikum allen künstlerischen Werken Vergnügen verdanken. Schiller hat sich mit dieser Frage mehrmals beschäftigt, am ausführlichsten in dem Essay Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen .

    Woran liegt es, dass sich deutsche Schriftsteller kaum noch in die Politik einmischen? Brauchen wir nicht den kritischen Geist der Autoren in diesem Land?
    Natürlich brauchen wir in diesem Land (wie in jedem anderen) den kritischen Geist, der sich in die Politik einmischt. Dass die Autoren sich in den letzten Jahren in diesen Angelegenheiten nur noch selten zu Wort meldeten, hat vermutlich mit ihrer Enttäuschung zu tun. Viele von ihnen glauben wohl, absolut nichts erreicht zu haben.

    Ich habe gehört, ein Grund dafür, dass es mit dem deutschen Roman und dem deutschen Film lange nicht so weit her sei wie mit dem englischen, amerikanischen, französischen und italienischen, liege darin, dass wir keine großen Erzähler zu unseren geistigen Ahnen zählen dürften, sondern allenfalls große Dichter. Was sagen Sie dazu?
    Ich bin verblüfft. Deutschland hat keine großen Erzähler? Und Goethe, der Autor des Werthers und der Wahlverwandtschaften ? Der geniale Novellist E. T. A. Hoffmann? Der herrliche Schweizer Gottfried Keller? Die Österreicher Arthur Schnitzler und Joseph Roth? Thomas Mann, dem wir die Buddenbrooks und den Z auberberg verdanken? Und schließlich der Jahrhundertschriftsteller Franz Kafka? Sind das keine großen Erzähler, die wir zu unseren geistigen Ahnen zählen dürfen? Ob die Voraussetzung, »mit dem deutschen Roman und dem deutschen Film (sei es) lange nicht so weit her wie mit den Romanen und Filmen der Engländer, Amerikaner« und so weiter, stimmt oder nicht – mit den Ahnen und ihrem Fehlen hat das nichts zu tun.

    Wäre es nicht Zeit für eine »Bibliothek vergessener Schriftsteller«? Nötigenfalls mit Foto und Namen eines Mäzens auf dem Waschzettel, falls kein Verlag sich traut?
    Meine Antwort lautet knapp: Nein. Lesern, die auf der Suche nach Lektüre sind, empfehle ich Romane von Stendhal, Balzac, Flaubert, Tolstoi, Dostojewski, Turgenjew, Gogol und anderen Autoren des neunzehnten Jahrhunderts, die keinesfalls vergessen sind. Ich empfehle also weltberühmte Bücher, denn kein Schriftsteller ist zufällig weltberühmt geworden. Oder wollen Sie vielleicht lieber ältere deutsche Romane lesen? Kennen Sie den großen Roman Vor dem Sturm und den kleinen Roman Schach von Wuthenow ? Diese beiden Bücher gehören zu den schönsten, die Theodor Fontane geschrieben hat.

    Literatur darf bekanntlich alles, nur langweilig darf sie nicht sein. Warum war die deutsche Literatur vor 1933 – von Arthur Schnitzler bis Thomas Mann – so spannend, und warum ist sie nach 1945 so langweilig geworden?
    Sie ist nicht langweilig geworden, nur sind manche Leser dieser Literatur noch nicht gewachsen.

    Wie konnte Thomas Mann das sehr umfangreiche und gründlich recherchierte Werk Joseph und seine Brüder über Themen der Bibel verfassen? Er war ja meines Wissens nicht das, was man einen religiösen Menschen nennen könnte. Durch diesen Roman zieht sich die Schilderung des Waltens Gottes auf Erden, über das eigentlich nur ein
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