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Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)

Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)

Titel: Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
Autoren: Lisa Unger
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PROLOG
    V ersagt zu haben war kein Gefühl, sondern ein Geschmack auf der Zunge, ein bohrender Schmerz im Nacken. Ein panisches Summen in seinem Kopf. Er sah, wie sich sein Versagen im verkniffenen, künstlichen Lächeln seiner Frau widerspiegelte, wenn er abends nach Hause kam. Er spürte es wie eine eisige Klammer, wenn sie ihn lieblos umarmte. Dabei wusste sie nicht einmal, wie schlimm es um ihn stand. Niemand wusste etwas, aber bestimmt konnten sie es riechen. Er dünstete das Versagen aus wie eine Alkoholfahne.
    Der Verkehr auf dem Highway geriet ins Stocken. Er versuchte, die klaustrophobische Beklemmung wegzuatmen, den ganzen Frust, der ihm auf die Brust drückte. Er beobachtete die anderen Autofahrer und fragte sich, warum niemand ausrastete oder den Kopf gegen das Lenkrad schlug. Wie schafften die Leute das, tagaus, tagein? Sie richteten sich zugrunde mit sinnloser Arbeit, an der sich letztendlich ein Dritter bereicherte. Und dann setzten sie sich ins Auto und reihten sich in die endlose Schlange ein, obwohl sie zu Hause nichts erwartete als eine endlose Litanei der Bedürfnisse. Warum? Warum lebten so viele Menschen so?
    An diesem Wochenende zum allerletzten Mal absolute Tiefpreise bei Eds Autohaus. Arbeitslos? Nicht kreditwürdig? Keine Sicherheiten? Kein Problem – wir helfen Ihnen!
    Kevin Carr schaltete das Radio aus, um den schizophrenen, fordernden Wortschwall nicht länger ertragen zu müssen. Iss dies. Kauf das. Sie wollen abnehmen? Weißere Zähne? Einen doppelten Cheeseburger mit Bacon? Einen Personal Trainer? Zwangsversteigerung am Sonntag. Aber die nun einsetzende Stille war fast noch schlimmer, denn jetzt konnte Kevin nichts anderes mehr hören als seine eigenen Gedanken, die dem Radio verdächtig ähnlich waren, sich aber nicht auf Knopfdruck abstellen ließen.
    Die Pendler ringsum – ein paar Fahrgemeinschaften, aber die meisten Leute waren wie er allein unterwegs – hielten das Lenkrad fest umklammert und starrten geradeaus. Keiner von ihnen sah glücklich aus, oder? Niemand sang zur Musik aus dem Autoradio, niemand lächelte vor sich hin. Viele Leute telefonierten über ihre Freisprechanlage und gestikulierten, als säße jemand auf dem Beifahrersitz. Dabei waren sie allein. Sahen die Leute bleich und frustriert aus? Ungesund, unzufrieden? Oder projizierte er lediglich seine eigenen Gefühle auf die anderen? Betrachtete er seine Umwelt als Abbild seines Innenlebens?
    Ohne zu blinken zog er den Wagen auf die rechte Spur und schnitt irgendein Arschloch in einem neuen BMW . Der Mann trat auf die Bremse und drückte wütend auf die Hupe. Beim Blick in den Rückspiegel sah Kevin, wie er ihm den Mittelfinger zeigte. Der BMW -Fahrer brüllte, obwohl er doch wissen musste, dass ihn keiner hörte. Kevin war wie berauscht vor Schadenfreude. Zum ersten Mal an diesem Tag musste er lächeln.
    Sein Handy klingelte. Obwohl er nur ungern ans Telefon ging, wenn er den Anrufer nicht anhand des Displays erkennen konnte, nahm Kevin das Gespräch an, indem er auf die Taste am Lenkrad drückte. Momentan jonglierte er mit so vielen Bällen, dass er fast den Überblick verloren hatte.
    »Hier Kevin Carr«, sagte er.
    »Hey«, sagte Paula. »Bist du auf dem Heimweg?«
    »Ich bin schon fast an der Ausfahrt«, antwortete er.
    »Die Kleine braucht Windeln. Und Cameron hat leichtes Fieber. Könntest du Ibuprofensaft mitbringen?«
    »Klar«, sagte er. »Sonst noch was?«
    »Ich glaube, das ist alles. Heute war ich doch tatsächlich mit beiden Kindern im Supermarkt.« Im Hintergrund hörte Kevin Wasser rauschen und Töpfe scheppern. »Und wir haben es wieder nach draußen geschafft, ohne dass ich einen Nervenzusammenbruch bekommen habe, kaum zu glauben, was? Cammy war heute wirklich brav. Aber die Windeln habe ich vergessen.«
    Er sah die Szene geradezu vor sich. Claire angeschnallt in der Babyschale, oben auf dem Einkaufswagen, und Cameron an Paulas Rockzipfel, während er Faxen machte und Lebensmittel aus den Regalen zog. Paula ließ sich nicht gehen und verließ das Haus stets gekämmt und geschminkt, ganz anders als die anderen Mütter, die er manchmal vor Camerons Kindergarten sah – Augenringe, fleckige Kleidung, wirres Haar. Das duldete er nicht.
    »Das nächste Mal solltest du vorher einen Einkaufszettel schreiben«, sagte er.
    Paula schwieg, und er hörte das Baby wimmern. Dieser weinerliche Dauerton, der in Geschrei umschlagen würde, falls nicht bald jemand herausfand, was es wollte, ließ ihn
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