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Für alle Fragen offen

Titel: Für alle Fragen offen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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das Buch pornographisch oder etwa hochmoralisch sei. Das scheint uns heute absurd: Es gibt hier keinen einzigen Satz, der den Roman auch nur in die Nähe der Pornographie rücken würde. Mit dieser Diskussion in den sechziger Jahren hängt es wohl auch zusammen, dass man sich häufig bemüht hat, Lolita in der Tradition der klassischen erotischen Literatur zu sehen. Tatsächlich steht im Mittelpunkt des Romans das uralte Motiv der heimlichen Liebesbeziehung: Sie muss geheim gehalten werden, weil sie mit den herrschenden sittlichen Auffassungen und Prinzipien nicht in Einklang zu bringen ist, ja, ihnen auf provozierende Weise widerspricht. Also: Leander und die Priesterin Hero, Tristan und Isolde, Anna Karenina und Wronski. Und hier: Humbert Humbert und Lolita.

    Die Konstellation ist einfach: Ein reifer Mann verfällt einem zwölfjährigen Mädchen und heiratet, um diesem Mädchen stets nahe zu sein, dessen Mutter. Immer wieder versucht dieser Mann zu beschreiben, was ihn an dem kleinen Dämon mit der Grazie eines Kobolds fasziniert und entwaffnet: Es ist die sinnliche, rein körperliche Attraktivität Lolitas. Sie versetzt ihn in einen Zustand der Erregung, der an Wahnsinn grenzt.
    Das zentrale Thema des Romans ist die sexuelle Hörigkeit, demonstriert an einem pathologisch-exzentrischen Beispiel. Aber er vergreift sich an dem Mädchen nicht: Nicht er verführt Lolita, sondern sie verführt ihn. Nicht sie ist ihm ausgeliefert, sondern er ihr. Das Mädchen ahnt nicht einmal, was das Wort »Liebe« bedeutet.
    Wo aber nur eine Person liebt, lässt sich schwerlich von einer Liebesgeschichte reden. Nein, nicht eine Liebesgeschichte wird hier erzählt, wohl aber die Geschichte einer Liebe. So leuchtet es denn ein, dass am Ende sie ihn verlässt und nicht umgekehrt. Daher kann Lolita nicht als eine moderne Version des klassischen erotischen Romans verstanden werden, das Buch ist vielmehr dessen virtuose Parodie.

    Die schriftstellerische Kunst, der diese Liebe höchste Anschaulichkeit verdankt, bezieht ihre Überredungskraft vor allem aus der Wahrnehmung und Beschreibung von Details. Gab es nach Marcel Proust einen Erzähler, der den Requisiten des Alltags, der den Nuancen und Winzigkeiten jeglicher Art so viel Leben und Expressivität abgewonnen hätte? Die Feder Nabokovs wird scheinbar mühelos dem Sinnlichen ebenso gerecht wie der Emotionalität, der Wollust ebenso wie der Zärtlichkeit. Ihm gelingt, worum sich die Epiker seit Homer bemühen – das Unglaubhafte zu beglaubigen.

    War Heinrich von Kleist ein politischer Schriftsteller?
    Heinrich von Kleist? Unser Kleist? Das preußische Genie? Ein zeitkritischer, ein politischer Schriftsteller war Kleist beinahe von Anfang an. Er sprach immer von seinem Vaterland und seinen Zeitgenossen und, natürlich, von sich selbst.
    Spielt der Zerbrochene Krug in einem niederländischen oder eher in einem brandenburgischen Dorf? Geht es im Michael Kohlhaas um Verhältnisse im sechzehnten oder im beginnenden neunzehnten Jahrhundert? Dass die Herrmannsschlacht auf die aktuelle politische Situation bezogen werden müsse, hat Kleist selbst mit Nachdruck gesagt. Und ich kann den Verdacht nicht loswerden, dass die Amazonen in der Penthesilea preußischer Herkunft sind.
    Ich weiß schon: Derartiges gilt für andere Poeten ebenfalls. Nicht in einem italienischen, sondern in einem deutschen Kleinstaat nimmt das Schicksal der Emilia Galotti seinen Lauf. Wo liegt das Lustschloss, in dem sich die Helden des Torquato Tasso amüsieren – in der Nähe von Ferrara oder von Weimar? Dennoch:
Keiner der großen deutschen Dichter war an der politischen Lenkung seiner Landsleute so brennend interessiert wie Kleist, keiner ging so weit wie der Mann, der immer und überall gescheitert war – in der Armee und im zivilen Leben, in der Liebe und in der Literatur.
    Ein Außenseiter, ein Ausgestoßener, ein Paria war es, der sich und seine Gefährtin am Kleinen Wannsee erschossen hat – nicht ein Liebender. Man hat gesagt, Kleist und Henriette gingen nicht in den Tod, weil sie sich liebten, vielmehr liebten sie sich, weil sie zusammen sterben wollten. Das ist schön ausgedrückt, nur nicht ganz richtig, weil dieses Bonmot die Beziehung der beiden auf dem Umweg über ihre Todeswilligkeit letztlich doch erotisch verbrämt.
    Als die Marquise von O. und der Rosshändler Michael Kohlhaas ihre Welt und Kleists Publikum auf ungeheuerliche Weise provozierten, als Jupiter, der Allmächtige, Alkmene verhörte und ihr
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