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Für alle Fragen offen

Titel: Für alle Fragen offen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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der Kunst? Robert Musil hat diese Frage gestellt und gleich lapidar beantwortet: »Wir als Geänderte bleiben.« Ich zögere nicht zu sagen: Romeo und Julia hat mich geändert.

    Sind Sie Wolfgang Koeppen jemals persönlich begegnet?
    Es war 1957. Ich lebte damals in Polen, wohin mich die nationalsozialistischen Behörden Ende 1938 deportiert hatten. Im Dezember 1957 reiste ich etwa zwei Wochen lang durch die Bundesrepublik. Offiziell war ich auf der Suche nach der neuen deutschen Literatur. Doch zugleich und vor allem wollte ich prüfen, ob ich nach beinahe zwanzig schweren Jahren vielleicht nach Deutschland zurückkehren könnte.
    In Hamburg, wo die Reise begann, interviewte mich Siegfried Lenz, in Köln betreute mich Heinrich Böll, in München Erich Kästner. Dann aber wollte ich unbedingt Wolfgang Koeppen sehen. Ich kannte von ihm nur ein einziges Buch: den Roman Der Tod in Rom . Der aber hatte es mir angetan, meine Kritik, in einer polnischen Zeitschrift gedruckt, war sehr ausführlich und des Lobes voll.
    Nun saß ich in München in einem Restaurant und wartete auf den Autor dieses Romans. Er wird schon sein – dachte ich mir – wie seine poetische Prosa, also scharf und streng, böse und bissig, jedenfalls ziemlich aggressiv.

    Aber der Herr, der auf mich zukam, machte einen anderen Eindruck. Ich glaubte, er sei ein solider Oberstudienrat, der Griechisch und Geschichte lehre, von den Schülern beiden Geschlechts geliebt werde und nach Feierabend an einem Buch über Perikles arbeite. Aggressiv war der Schriftsteller, mit dem ich den Abend verbrachte, am allerwenigsten, auch nicht selbstsicher, vielmehr etwas schüchtern, wenn nicht gehemmt, sehr freundlich und verbindlich, leise und liebenswürdig.
    Meine Fragen beantwortete er höflich und genau. Schließlich gab er mir ein Exemplar des Romans Der Tod in Rom . Ich wünschte mir, wie es sich gehört, eine Widmung. Ja, gewiss, aber so schnell gehe das nicht. Darüber müsse er erst nachdenken, mit einem verlegenen Lächeln bat er mich um Verständnis. Er werde das Buch mitnehmen und es mir dann mit einer entsprechenden Eintragung wiederbringen.
    Vierundzwanzig Stunden später überreichte mir Koeppen seinen Roman zum zweiten Mal. Aber ich wagte nicht, den inzwischen von ihm verfassten Widmungstext in seiner Gegenwart zu lesen. Erst in meinem Hotelzimmer schlug ich, noch im Mantel, neugierig
das Buch auf. Die Widmung lautete: »Für«, es folgte mein Name, »in freundschaftlicher Zuneigung«. Das war alles.
    Um diese Worte zu ersinnen, hatte er also das Exemplar seines Romans für einen Tag mit nach Hause genommen. Damals, als ich Koeppens konventionelle Formel las, wurde mir erst bewusst, wie außergewöhnlich sein schriftstellerisches Verantwortungsgefühl war.
    Nein, ein Autor, auf den man sich verlassen konnte, war er nie. Niemals hat er Termine eingehalten, niemals hat es ihm etwas ausgemacht, seine Auftraggeber auf sanfte Weise vor den Kopf zu stoßen oder im Stich zu lassen. Gelegentlich wurde er als Bohemien bezeichnet, womit nicht Koeppens Habitus gemeint war, wohl aber seine geradezu extreme Ungebundenheit. Das stimmt schon, nur war er ein Bohemien mit Prinzipien.
    Unzuverlässigkeit und Verantwortungsgefühl gingen bei ihm Hand in Hand. Verleger und Redakteure haben ihn oft bedrängt, haben ihm in ihrer Verzweiflung gedroht oder geschmeichelt – und waren bisweilen erfolgreich. Doch unter keinen Umständen ließ sich Koeppen dazu überreden, ein Manuskript abzuliefern, das er für unfertig hielt.

    Welcher Schriftsteller, den Sie im Leben kennengelernt haben, war der interessanteste? Also im Gespräch der lebendigste, anregendste?
    Zu einem berühmten Züricher Nervenarzt kommt als Patient ein ernster, älterer Herr. Er leidet an schrecklichen Depressionen. Der Arzt rät ihm, täglich längere Spaziergänge zu machen und auch Bootsfahrten auf dem Zürcher See. Das habe er schon getan, sagt der Patient, und es habe überhaupt nicht geholfen. Dann solle er ins Varieté gehen, wo der weltberühmte Clown Grock auftrete, der bisher jeden zum Lachen gebracht habe. Nein, sagt der düstere Patient, das sei unmöglich. Ja, warum bloß? Ich bin Grock.
    Es gibt viele Autoren, die im Gespräch interessant und originell sind. Liest man später ihre Bücher, ist man enttäuscht. Denn es sind häufig langweilige oder bestenfalls mittelmäßige Bücher. Die Leute wundern sich, sie können das nicht begreifen. Sehr zu Unrecht. Denn wenn einer fabelhafte Witze
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