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Für alle Fragen offen

Titel: Für alle Fragen offen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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grandiose Darstellung des Massenwahns, der Verführbarkeit der Menschen, genauer, der kaum zu begreifenden Wirkung eines widerlichen und verabscheuungswürdigen Verbrechers auf ein zivilisiertes Volk inmitten Europas. Muss man noch sagen, welches Ungeheuer Patrick Süskind meint, auf welches Volk sein Gleichnis vor allem abzielt?

    Was halten Sie von Saul Bellow?
    Der feinfühlige und geistreiche, von des Gedankens Blässe angekränkelte und von Skrupeln und Hemmungen gequälte Professor oder Literat, der im Mittelpunkt aller Romane und Geschichten Saul Bellows steht, ist ein Jude. Er wird meist mit charakteristischen jüdischen (und auch als jüdisch geltenden) Eigentümlichkeiten versehen. Diese stark betonte Besonderheit der Hauptfiguren Bellows hat den Wirkungsbereich seines Werks keineswegs eingeschränkt. Im Gegenteil, die Zugehörigkeit zu einer Minderheit hat die Allgemeingültigkeit dieser Gestalten vielleicht noch gesteigert. Denn die Außenseiterposition der Helden Bellows verändert und verschärft ihre Reaktion auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, auf ihre ganze Umwelt. Die Krise des heimatlosen jüdischen Intellektuellen ist eine grelle und daher deutlich (oder auch überdeutlich) wahrnehmbare Variante eines Zustandes, der beispielhaft ist für den der Intellektuellen dieser Epoche.
    Mit anderen Worten: Diese einsamen Sonderlinge, die aus den jüdischen Vierteln amerikanischer Großstädte kommen, sind weit
über das Regionale oder das Nationale hinaus typische Gestalten. Bellow zeigt im Extremen das Exemplarische. Daher haben die Leser der ganzen Welt in den von ihm gezeichneten Porträts amerikanischer Juden sich selber wiedergefunden, die eigenen Konflikte und Komplexe. Den deutschen Lesern erscheint die Comédie humaine Bellows, übrigens eines Bewunderers der deutschen Literatur, niemals fremd oder gar exotisch. Wie sollte sie es auch? Erzählt er doch von Menschen, die, irrend, solang sie streben, erkennen wollen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Und deren Weisheit letzter Schluss das Bekenntnis zum Ewigweiblichen ist.

    Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff äußerte einmal, man müsse unbedingt Kafka gelesen haben. Warum ist Franz Kafka so wichtig?
    In seinen Romanen (vor allem im Prozess ) und Erzählungen war Franz Kafka seiner Epoche vorausgeeilt – wie kein anderer seiner Zeitgenossen. Erst Jahrzehnte nach seinem Tod (er starb im Jahre 1924), als sich die Rolle der Intellektuellen in der Gesellschaft weitgehend geändert hatte, vermochte man zu erkennen, dass die zunächst bloß auf eine spezifische Prager Konstellation zu beziehenden Geschichten vom Schicksal der Ausgestoßenen und Angeklagten klassische Parabeln der Heimatlosigkeit und der Entfremdung sind. Die von Kafka immer wieder dargestellte Tragödie der Juden – das Wort »Jude« kommt übrigens in seinen Romanen nicht vor – wurde später als Extrembeispiel der menschlichen Existenz verstanden.
    Kafka gilt neben Thomas Mann als der bedeutendste deutsche Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts. Sein Einfluss auf die Weltliteratur ist enorm.

    Haben Sie Alessandro Manzonis Roman Die Verlobten gelesen? Und wenn ja – was denken Sie über dieses Buch?
    Alessandro Manzonis Roman Die Verlobten gehört zu jenen großen Werken der Weltliteratur, die mir in meiner Jugend entgangen sind. Erst im Jahre 1952 hat mich Anna Seghers auf diesen Roman aufmerksam gemacht und von mir verlangt, dass ich ihn schleunigst lese.
    Als wir uns 1952 in Warschau trafen, machte Anna Seghers auf mich einen widerspruchsvollen Eindruck: Von ihrer Person ging etwas Betuliches aus – und zugleich etwas Unheimliches. Das hatte mit ihrer Mimik zu tun. Eben hatte sie freundlich gelächelt – und schon blickte sie resigniert und vielleicht schwermütig drein. Eben hörte sie mir konzentriert zu – und schon hatte ich den Verdacht, sie wäre zerstreut oder abwesend.
    Als wir auf Das siebte Kreuz zu sprechen kamen, rühmte ich die novellistische Komposition dieses Romans. Anna Seghers winkte ab. Was ich da lobe, sei nicht ihr Werk oder Verdienst. Sie habe die Komposition von Manzonis Roman Die Verlobten übernommen. Sie empfahl mir dringend die Lektüre
dieses Buches. Ich habe ihren Ratschlag noch in derselben Woche befolgt – und keine nennenswerten Analogien gefunden. Die Komposition der Verlobten mag mich tief beeindruckt haben, doch die Vorbildfunktion war wohl nur für sie selbst erkennbar.
    »Es waren zwei Königskinder, / die hatten
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