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Friesenherz

Friesenherz

Titel: Friesenherz
Autoren: Janna Hagedorn
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alles zu viel wird, steigst du da hinauf und weißt wieder, wie die Dinge liegen. Oder wo das Ziel ist. Wo du hinwillst.«
    »Wie praktisch«, gab ich patzig zurück. »Schade eigentlich, dass du so ein Türmchen nicht dabeihattest an dem Abend, als du in dieser komischen Galerie …«
    Da zog etwas an meinem rechten Fuß. Verwirrt brach ich ab und versuchte gleichzeitig dagegenzuhalten. War es jetzt so weit? War das die Frau mit dem roten Rock, die hier auf dem Meeresgrund saß und nach ihrem Opfer schnappte?
    Ich versuchte, mich zu beruhigen. Das waren nur friesische Gruselgeschichten, nichts als Folklore. Hier geisterte keine Frau mit einem roten Rock herum, egal, was ich in den letzten Tagen an Seemannsgarn gehört hatte. Hier gab es nur jede Menge Schlick.
    Noch einmal versuchte ich, meinen Fuß mitsamt Gummistiefel zu befreien, ungeduldig und heftig, da passierte es: Ich fiel.
    Und während ich noch fiel, spürte ich, sah beinahe in Zeitlupe vor mir, wie mein Knöchel sich langsam, langsam verdrehte, unentschlossen, ob er dem feststeckenden Fuß die Treue halten sollte oder eher dem Rest des Körpers. Dann war da dieses Knacksen, mehr ein Gefühl als ein Geräusch, zu leise, um gegen den heulenden Sturm bestehen zu können. Im letzten Moment, ehe ich der Länge lang im Matsch landete, kamen der Gummistiefel und der Fuß mit einem Schmatzen frei, dann waren Anns Hände an meinem Arm und hielten mich.
    »Scheiße«, rief sie, »hast du dir wehgetan? Kannst du auftreten?«
    Ich versuchte es, so vorsichtig ich konnte. Ein weißer Blitz aus Schmerz durchzuckte meinen Körper. Ich stöhnte auf. Ann ballte die Fäuste und hieb damit auf ihre Turnschuhe ein.
    »Bullshit!«, schrie sie dann. »Fuck!«
    Ich hätte es vielleicht ein bisschen anders ausgedrückt. Aber in der Sache musste ich ihr recht geben.
    »Los, komm«, sagte sie barsch, »steig auf.«
    Sie stellte sich breitbeinig hin und ging in die Hocke. Dann bedeutete sie mir mit den Händen, dass ich auf ihren Rücken klettern sollte.
    »Bist du sicher?«, fragte ich verdattert, während ich mühsam auf einem Bein balancierte. »Ich meine, du …«
    »Absolut sicher weiß ich nur eines: Wenn wir hier noch länger stehen bleiben, haben wir beide keine Chance.« Noch einmal gestikulierte sie, und das so entschieden, dass ich meinen Widerstand aufgab.
    Schwerfällig kletterte ich auf ihren Rücken. Ann richtete sich auf, straffte die Muskeln. Der zuckende Schmerz hatte sich in ein Pochen verwandelt. Es war, als wäre mein Herz in meinen Knö chel gerutscht und würde dort weiterschlagen. Und dann, als hätte sich durch den Sturz plötzlich ein Knoten in meinem Kopf gelöst, wusste ich es wieder.
    »Ann!«, rief ich. »Wir sind so gut wie gerettet.«
    »So?«, fragte sie skeptisch. »Sind wir?«
    »Geradeaus gehen.« Ich umklammerte ihre Schultern. »Einfach geradeaus gehen. Ohne Umwege, ohne Abweichungen aufs Ziel zu. Erinnerst du dich? Neulich, mit Jan? Das Experiment?«
    Ann blieb einen Moment starr stehen, dann nickte sie unmerk lich. Ich konnte ihn förmlich spüren, den Augenblick, in dem meine Idee bei ihr ankam. Sie packte meine Schenkel fester und holte tief Luft.
    »Das werden wir ja sehen«, sagte sie grimmig.

2
    Eine Woche zuvor hatte ich noch ganz andere Probleme gehabt. Ich hatte am Fenster des Wellnesshotels »Ananda« gesessen, in den verregneten Novembernachmittag geblickt und über die Form meiner Augenbrauen nachgedacht.
    Mit einem seitenlangen Fragebogen auf den Knien wunderte ich mich darüber, dass so viele Jahre vergehen konnten, ohne dass ich je einen Gedanken an diesen Körperteil verschwendet hatte. Ich wusste ja schließlich auch, wie mein Gebiss aussah, mit der winzigen Lücke zwischen den Schneidezähnen, und sogar meine eigenen Hände mit den kantigen Daumen hätte ich vermutlich wiedererkannt, wenn ich sie auf einem Foto gesehen hätte. Aber die Augenbrauen?
    Ich blickte hinaus. Dort lag nichts als die glänzende dunkle Fläche des Wattenmeers, darüber ein verhangener Himmel, und die hölzernen Möwenaufstellerchen auf der Fensterbank sahen trübsinnig drein. Die wussten wohl auch keine Antwort.
    Noch einmal las ich die drei Auswahlmöglichkeiten, Frage zehn auf Seite eins: dicht und buschig? Das klang nach CSU-Minister. Fein und unregelmäßig? FDP-Hinterbänkler. Dunkler als die Kopfhaare? Vielleicht, aber ich zögerte, bei c mein Kreuzchen zu machen. Denn wenn ich meine Antworten zusammenzählte, später, wollte ich vor allem eines
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