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Friesenherz

Friesenherz

Titel: Friesenherz
Autoren: Janna Hagedorn
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Das hatte ich lange nicht mehr empfunden.
    »Maike«, sagte sie leise, »bevor wir in die gemeinsame Arbeit einsteigen – gibt es etwas, das du mir erzählen möchtest? Das dich bedrückt? Das dir gerade Beschwerden macht, körperlich oder seelisch?«
    Schon beim letzten Wort begann ich, energisch den Kopf zu schütteln. »Überhaupt nicht«, gab ich zurück, »mit mir ist alles in bester Ordnung.«
    Wieder sah sie mich durchdringend an, dann stützte sie sich mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte auf und wuchtete ihren dicken kleinen Körper hoch. Beinahe war ich darauf gefasst, dass sie mir eine fürchterliche Strafpredigt halten würde – wenn ich auch nicht wusste, weshalb –, aber sie hatte etwas anderes im Sinn.
    »Jetzt fehlen mir nur noch ein, zwei Zahlen. Bitte schön.« Sie machte eine einladende Handbewegung und zeigte auf eine Personenwaage mit rot leuchtender Digitalanzeige, die unter dem Bild eines tanzenden, mehrarmigen Indergottes in der Ecke des Raumes stand.
    »Sie meinen, ich soll da jetzt …«
    »Sicher.«
    »Aber es ist halb drei Uhr nachmittags!«
    »Und?«
    »Eigentlich …«, begann ich. Doch was sollte sich ausgerechnet die Ayurveda-Ärztin dafür interessieren, dass ich sonst immer nur morgens nüchtern auf die Waage stieg, und zwar donnerstags, weil ich immer mittwochs meinen Apfel- und Vollkornreis-Entschlackungstag einlegte?
    Ich stand auf, zog die Schuhe aus, stellte mich auf die Waage und schloss die Augen.
    »Fünfundsechzig«, verkündete Dr. Sidhoo fröhlich, ehe ich ihr sagen konnte, dass ich das Ergebnis nicht wissen, geschweige denn laut hören wollte. »Dann müsste ich nur noch wissen, wie alt du bist.«
    Ich blickte von meiner erhöhten Position auf der Waage auf die kleine Ärztin herab. »Na«, fragte ich herausfordernd, »was schätzen Sie?«
    Sie zuckte die Schultern. »Ist immer schwer zu sagen bei Euro päerinnen«, sagte sie, »vielleicht achtunddreißig, neununddreißig?«
    Neununddreißig. Es war so weit. Jetzt ging ich also selbst bei Schätzungen nicht mehr für Anfang dreißig durch. Und wenn man bedachte, dass die Leute aus Höflichkeit ohnehin noch ein paar Jahre abzogen – wirkte ich dann womöglich wie eine Frau, die schon weit drinsteckte im fünften Lebensjahrzehnt?
    Ich fragte mich, was mich verraten hatte. Meine Haare konnten es nicht sein, da gab es noch keine einzige Spur von Grau, auch nicht von oben. Das ließ ich mir jedes Mal bestätigen, wenn ich zum Friseur ging. Vielleicht waren es meine Fingernägel. Besser gesagt, die Daumennägel. Die bildeten seit einiger Zeit diese merkwürdigen Querrillen und Furchen. Keine Ahnung, wann das angefangen hatte und wohin das noch führen würde.
    »Vierzig«, sagte ich leise, und Dr. Sidhoo lachte.
    »Oh, dafür siehst du aber recht … sportlich aus.«
    Bevor ich nachfragen konnte, was sie damit meinte, legte sie eine Hand zwischen meine Schulterblätter und dirigierte mich sanft zu einer weiteren Tür, die in ein Nebenzimmer führte.
    »Meine Masseurin ist jetzt bereit«, erklärte sie.
    »Ist die auch aus Indien?«
    »Nein, Ose hat ihre Ausbildung hier gemacht.«
    »Hier? In diesem … äh … Hotel?«
    »An der Ayurveda-Akademie südliches Nordfriesland.«
    »Und was für eine Behandlung …«
    »Du bekommst gleich deine erste Verjüngungsmassage.«
    Es verschlug mir die Sprache. Erst auf achtunddreißig geschätzt werden, und jetzt die Verjüngungsmassage, mit einer Selbstverständ lichkeit, als käme gar nichts anderes infrage. Das war keine Well nesswoche, das war das Festival der tausend Grausamkeiten. In dem Moment ahnte ich: Diese Tage an der Nordsee würden mir alle, aber auch alle Illusionen über mein bisheriges Leben nehmen.
    Auch wenn ich da natürlich noch nicht wusste, wie recht ich mit dieser Ahnung haben würde.

4
    Als die Tür zum Nebenzimmer aufging, verstand ich, woher der Geruch nach Linseneintopf gekommen war, und entschuldigte mich innerlich bei der Hippie-Frau. Immerhin, für ihre Ausdünstungen hatte sie nichts gekonnt. Das gehörte wohl zur Behandlung. Der Duft stieg von einem kupfernen Tiegel auf, der mit einem rötlichen Öl gefüllt war, in dem Bröckchen von Gewürzen und Kräutern schwammen. Eine hagere Blondine hatte sich über den Tiegel gebeugt und rührte darin. Sie hatte große Ähnlichkeit mit einem Pferd, vom dichten Pferdeschwanz bis zum Gebiss. Der weiße Zweiteiler aus Leinen, mit dem sie bekleidet war, erinnerte mich an einen Kinderschlafanzug.
    »Sie kann sich
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