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Schattengott

Schattengott

Titel: Schattengott
Autoren: Uli Paulus
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    Als die gusseiserne Glocke im Windfang läutete, war Sabina
Lindemann gerade im Hund. Sicher war es Agi, die wie jeden Morgen die Zeitung
ans Haus brachte. Sabina beendete die Yogaübung, zog ihre Pantoffeln an und
ging zur Tür. Auf der alten Holzbank unter dem Fenster lag die Montagsausgabe
der Südostschweiz. Sie nahm die Zeitung, blickte über das Schamsertal und
atmete in tiefen Zügen die kühle, reine Luft ein. Der Himmel über den Bergen
war wolkenlos blau, die Gipfel strahlten in polarem Weiss.
    Mit einer grossen Tasse Milchkaffee setzte sie sich in die Stube und
blätterte in der Zeitung. Übers Wochenende waren drei Skibergsteiger bei einem
Lawinenabgang in Graubünden verunglückt. Alle tot. Gerade jetzt im Frühjahr,
wenn der Schnee feuchter wurde, brachen immer wieder Gleitschneelawinen ab. Man
musste höllisch aufpassen.
    Sabina nahm einen Schluck Kaffee und schlug die Seite um. Im
Lokalteil fürs Domleschg und das Schams blieb sie an einer Meldung hängen, die
ein Polizeikollege aus der Pressestelle verfasst haben musste: «Junge Frau aus
Reischen vermisst. Die Kantonspolizei Graubünden fahndet seit dem Wochenende
nach der Auszubildenden Katharina Jakobs aus Reischen am Hinterrhein. Die
Achtzehnjährige arbeitet bei der Graubündner Kantonalbank in Thusis. Zum
Zeitpunkt ihres Verschwindens trug sie vermutlich einen grauen Hosenanzug und
hatte eine schwarze Ledertasche bei sich. Sie ist 1,67 m gross, hat lange
braune Haare und graublaue Augen. Zuletzt gesehen wurde sie am vergangenen
Freitag gegen fünfzehn Uhr dreissig in Thusis. Die Polizei bittet um
sachdienliche Hinweise …»
    Könnte was für uns werden, dachte Sabina und faltete die Zeitung
zusammen. Sie blickte aus dem Fenster. Auf der anderen Talseite lag weit unter
dem Muttner Horn das Dörfchen Reischen mit seinen gerade mal fünfzig
Einwohnern. Es war ungewöhnlich, dass aus einer derart kleinen Ortschaft jemand
spurlos verschwand. Sie trank den letzten Schluck, stellte die Tasse in die
Küche und packte ihre Sachen. Bis zur Kantonspolizei in Chur war sie gut eine
halbe Stunde unterwegs.
    «Was sagen die Eltern?», fragte Malfazi, der erst um halb zehn
zur Arbeit erschienen war.
    «Sie haben wohl nichts Besonderes bemerkt», antwortete Sabina.
«Katharina hat am Freitag gegen sieben Uhr das Haus verlassen und ist wie immer
zum Bus gegangen. Gegen acht ist sie in der Arbeit erschienen.»
    «Und auf der Bank? Ist den Kollegen etwas aufgefallen? Hat sich das
Mädchen irgendwie sonderbar verhalten?»
    «Ein Disput mit einem deutschen Touristen, der sich beschwert hat,
weil seine EC -Karte
am Automaten nicht funktionierte.»
    «Hat jemand den Touristen überprüft?»
    «Bisher nicht», sagte Sabina. «Die Thusner kämpfen mit einer
Grippewelle. Deswegen übernehmen wir ja die Sache.»
    «Müssen wir uns jetzt um jeden Dreck kümmern?» Malfazi fuhr sich
durch seine dunklen, gegelten Haare. Der Montagmorgen war seine Sache nicht. Er
verliess das Büro mit einem Fluch, von dem nur das finale «huara seich» im Raum
hängen blieb. Sabina ≠und ihr älterer Kollege Thomas Heini grinsten sich an.
    «Der hat sich ja mal wieder richtig ausgeruht am Wochenende», sagte
Sabina.
    Heini nippte an seinem Kaffee. «Das mit dem Rendezvous hat wohl
nicht geklappt. Zumindest kam er offensichtlich nicht zum Abschluss.»
    Sabina verschluckte sich vor Lachen. Just in diesem Moment kam
Malfazi ins Büro zurück.
    «Hier geht’s ja lustig zu.» Er liess sich schwungvoll in seinen
Stuhl fallen, legte die Füsse auf den Schreibtisch und verschränkte
demonstrativ entspannt die Arme hinterm Kopf.
    «Vielleicht hat’s ja doch geklappt mit dem Abschluss.» Sabina
schickte ein Grinsen zu Heini, der an der Wand neben ihrem Schreibtisch lehnte.
    Heini stiess süffisant ein wenig Luft durch die Nase und ging zur
Tür. Malfazi nahm ruckartig die Beine vom Tisch und sprang auf.
    «Ihr macht euch doch über mich lustig. Was soll das?»
    «Du meldest dich, wenn es was Neues aus Thusis gibt», sagte Heini
und trat auf den Gang.
    «Arschloch», rief ihm Malfazi hinterher und schlug mit
beträchtlichem Energieeinsatz die Tür zu.
    Sabina stand am Fenster und schaute auf die Gipfel des
Calandamassivs. Sie spürte, wie Malfazis Blick über ihren Körper wanderte und
am zentralen Punkt ihrer Rückseite haften blieb. Sie konnte seine Gedanken
regelrecht hören und machte sich einen Spass daraus, ihre Hüfte ganz leicht
hin- und herzuwiegen. Dann drehte sie sich unvermittelt um
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