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Schattengott

Schattengott

Titel: Schattengott
Autoren: Uli Paulus
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Körpergrösse fast
fünfundneunzig Kilo und konnte kaum einem Stück Fleisch oder Schokolade
widerstehen.
    «So erntet eben jeder, was er sät», meinte er.
    Sabina stocherte in ihrem Salat herum und wog ihre Gedanken ab.
    «Ist alles, was einem im Leben widerfährt, die Ernte von etwas, was
man vorher gesät hat?»
    «Du meinst, so im Sinne von Karma? Ob alles, was einem passiert, der
Lohn oder die Strafe für ein früheres Verhalten ist?», fragte Heini.
    «Ja. Genau das.»
    «Ich weiss es nicht. Aber eher nicht, bei den vielen reichen
Arschlöchern, die es auf der Welt so gibt. Das haben die sich doch nicht in
einem früheren Leben verdient. Oder glaubst du das?»
    «Ich fänd so ’ne Karmapolizei okay. Aber wenn ich an Unfall- oder
Vergewaltigungsopfer denke, kommt mir das ziemlich absurd vor.»
    «So kommt man nicht weiter», sagte Heini. «Karma, höhere
Gerechtigkeit. Das sind alles Ideen, um sich die Ungerechtigkeiten des Lebens
erträglicher zu machen. Am Ende ist doch alles Zufall.»
    «Wahrscheinlich. Aber du hast damit angefangen», sagte sie, «man erntet,
was man sät.»
    «Ja, aber doch nur beim Essen», erwiderte er und fasste sich
genüsslich an den Bauch.
    Thomas Heini mochte die Gespräche mit Sabina Lindemann. Wie fast
allen männlichen Kollegen gefiel die Neue mit den langen dunkelblonden Haaren
und den türkisgrünen Augen auch ihm. Nur offenbarte er es nicht auf so plumpe
Art und Weise. Mit ihren zweiunddreissig Jahren war sie eine der jungen
Hoffnungsträgerinnen bei der Kantonspolizei. Ihre Zeugnisse waren erstklassig,
ihre Liste an absolvierten Weiterbildungskursen beeindruckend. Schon nach drei
Monaten war sie eine gut integrierte Mitarbeiterin. Heini selbst war bereits
zweiundsechzig und hatte keine Karriereambitionen mehr. Aus gesundheitlichen
Gründen hatte er vor einem Jahr um Versetzung in den Innendienst gebeten, wo er
vornehmlich Beweismittel und Verdachtsmomente auswertete.
    Nach dem Espresso rief er den Kellner zum Bezahlen.
    «Toni», sagte er, «du kennst doch hier in der Umgebung fast jeden.
Sagt dir der Name Gustav Höhli was?»
    «Hm», überlegte der Kellner, «Gustav Höhli. Ich meine, das ist der
Familienvater aus Tiefencastel, der letztes Jahr angeklagt war, weil er seine
Frau vergewaltigt haben soll. Zumindest hat sein Weib das behauptet.» Sein
Tonfall gab deutlich zu verstehen, was er von Frauen hielt, die so etwas taten.
«Man konnte ihm wohl nichts nachweisen.»
    «Stimmt», sagte Heini, «in dem Zusammenhang hab ich den Namen
gehört.» Er liess dem Kellner ein ordentliches Trinkgeld zurück und klopfte ihm
freundschaftlich auf die Schulter.
    Den Rest des Nachmittags nahm Sabina Rückmeldungen aus der
Bevölkerung entgegen und erledigte Routinearbeiten. Alle Zeitungen und
Radiosender in Graubünden und den anliegenden Kantonen waren mit der
Vermisstenmeldung versorgt worden. Die meisten Anrufer waren allerdings eher an
dem Schicksal der jungen Frau interessiert als daran, sachdienliche Hinweise zu
ihrem Verschwinden zu geben.
    Um sechs Uhr verliess Sabina das Polizeigebäude und fuhr nach Hause.
Die Strecke vom Arbeitsplatz zu ihrem Wohnort war für Bündner Verhältnisse
ungewöhnlich lang, und mancher wunderte sich darüber. Von ihren halbdeutschen
Wurzeln und dem geerbten Haus wussten allerdings die wenigsten, zumal sie
perfekt Schweizerdeutsch sprach.
    Sie bog hinter dem langen Viamala-Tunnel von der Autobahn ab und
nahm die alte Bergstrasse durch die Schlucht, auf der auch der Postbus
verkehrte. War Katharina Jakobs möglicherweise hier irgendwo verschwunden? Oder
war sie tatsächlich nicht mit dem Bus unterwegs gewesen? Aber mit wem war sie
dann gefahren und wohin? Irgendjemand musste sie am Busbahnhof abgeholt haben.
    Es gab viele mögliche Antworten. Ein achtzehnjähriges Mädchen taucht
am Freitag nach der Arbeit irgendwohin fürs Wochenende ab und verlängert den
Ausflug eben noch um einen Tag. Klar machten sich die Eltern Sorgen, weil sich
die Tochter normalerweise immer abmeldete und weil sie nichts mitgenommen
hatte. Aber war es nicht denkbar, dass sie einfach einer spontanen Einladung
gefolgt war? Und den Eltern vielleicht sogar eine SMS geschickt hatte, die
nicht angekommen war? Beim Arbeitgeber allerdings hätte sie sich auf jeden Fall
abmelden müssen. Dass sie heute nicht zur Arbeit erschienen war, war
merkwürdig.
    Sabina beschloss, sich am nächsten Tag den Bekanntenkreis der
Vermissten vorzunehmen. Sie stellte das Radio lauter und fuhr mit
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