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Friesenherz

Friesenherz

Titel: Friesenherz
Autoren: Janna Hagedorn
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nicht sein: der Kapha-Typ. Das waren diese dicklichen, phlegmatischen Typen, die vollkommen mit ihrem Leben zufrieden waren, solange es nur regelmäßig etwas zu essen gab.
    Ich reckte den Kopf und blickte in den Spiegel, der über dem Schreibtisch in der anderen Zimmerecke hing. Meine Augenbrauen sahen aus, als hätte man jemanden gebeten, ein möglichst typisches Paar zu zeichnen. Nicht zu breit, nicht zu schmal, nicht zu hell, nicht zu dunkel. Keine besonderen Merkmale. Normal, dachte ich. Das ist mein Problem. An mir ist alles normal.
    Ich griff wieder nach dem Fragebogen und machte ein entschlossenes Häkchen bei c. Auch wenn mich das der Auflösung näherbrachte, vor der ich mich am meisten fürchtete. Es nutzte nichts, man konnte nicht ewig vor der Wahrheit davonlaufen.
    Frage zehn von fünfunddreißig. Wenn ich in dem Tempo weitermachte, musste die indische Ayurveda-Ärztin im ersten Stock noch bis heute Abend auf mich warten. Wobei sie das vermutlich nicht gestört hätte. Auf dem Foto im Hotelprospekt sah Frau Dr. Sidhoo aus wie Kapha in Reinform: klein und rund und gemütlich und durch nichts aus der Ruhe zu bringen.
    Ich blätterte die zusammengehefteten Seiten um und las die nächste Frage. Vata und Pitta konnten Hunger ertragen, Kapha nicht. Dann also doch a oder b. Ob ich möglicherweise der schmale, nervöse, hypersensible Typ war? Voll kreativer Einfälle und sprühender Energie? Man sah es mir zwar nicht an, aber das hatte nicht unbedingt etwas zu sagen. Und es hätte mir gefallen.
    Bei Frage vierzehn stand ich auf, ging näher an den Schreibtischspiegel und streckte mir selbst die Zunge heraus. Eher gelb oder eher rosa? Eher nass oder eher trocken? Und waren Zungen nicht sowieso eher feucht, im Allgemeinen?
    Ich trottete zurück zu meinem Rattansessel mit den blau-weiß gestreiften Kissen und ließ das Antwortfeld frei. Wie lösen Sie Probleme?, stand unter Punkt fünfzehn. Ruhig und analytisch, getrieben von unterdrückter Wut, vermeidend? Die machten es sich ganz schön einfach, diese Ayurveda-Inder. So einen Fragebogen konnte nur ein Naturheilkundler entworfen haben, der seit Jahren im Lendenschurz unter einem Banyan-Baum meditierte. Keiner, der Ahnung hatte vom wirklichen Leben. Uneindeutig, diese Frage war eindeutig uneindeutig. Was sollte ich da schon hinschreiben? »Kommt darauf an«?
    Wenn ich vormittags vor meinem Bio-Profilkurs stand oder von Arbeitsgruppe zu Arbeitsgruppe schlenderte, war ich zum Bei spiel ganz der luftige Vata-Typ: erläuterte geduldig, wie das Strukturmodell eines Zuckermoleküls beschaffen war, ließ Schüler laut denken und unterbrach erst, wenn sie das Ergebnis praktisch schon kannten, aber die letzten Zahnrädchen in ihren Köpfen noch nicht ineinandergriffen. Samstagabends, wenn ich Ronja nachsah, wie sie das Haus verließ, war ich eher Pitta. Voll unterdrückter Wut. Und voll schlechtem Gewissen darüber.
    Eine Räubertochter hatte ich gewollt, und was hatte ich bekommen? Ronja hatte schon als kleines Mädchen lieber mit Barbies gespielt, als am Bach Staudämme zu bauen, und in den letz ten Jahren war dieser Hang noch ausgeprägter geworden, bis Ronja sich schließlich zurechtmachte, als sei sie selbst eine lebende Plastikpuppe mit blauer Perücke und Petticoat. Dass sie zum Gartenfest an meinem Vierzigsten ausgerechnet diesen Maschinenbaustudenten angeschleppt hatte, mindestens zehn Jahre älter als sie, das hatte genau ins Bild gepasst. Ein Prinzesschen, das sich auf Händen durchs Leben tragen ließ.
    Vielleicht hätte es mich als Mutter eher beruhigen sollen, dass ihr Freund so viel älter war als sie. Dass er vermutlich nicht betrunken Auto fahren würde, oder was Jungen in Ronjas Alter sonst so anstellten. Aber aus irgendeinem Grund war genau das Gegenteil eingetreten. Es beunruhigte mich. Und zwar sehr.
    Was meinen eigenen Mann anging, nun, da neigte ich wohl zur Kapha-Kategorie. Vermeidend. Und, ganz ehrlich: Ich fand das auch nicht so verkehrt. Über die Jahre hatten Torge und ich diese freundliche Diplomatie erlernt, ohne die eine Beziehung auf Lebenszeit heute gar nicht mehr möglich war. Wir hatten ein gemeinsames Theater-Abo und ein Tandem, über dessen Tempo wir uns beim Treten wortlos verständigten. Sein Bart störte mich nicht beim Küssen, und Torge fasste mir auch nach so vielen Jahren im mer noch gern selbstvergessen an den Hintern. Vielleicht nicht der Gipfel der Romantik, aber deutlich besser als das Schicksal vieler unserer Freunde, die das
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