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Todesinstinkt

Todesinstinkt

Titel: Todesinstinkt
Autoren: Heyne
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    D er Tod ist nur der Anfang; das Schwierige kommt erst danach.
    Es gibt drei Arten, mit dem Wissen um den Tod zu leben und seinen Schrecken in Schach zu halten. Die erste ist Verdrängung: Man vergisst, dass er irgendwann kommen wird; man tut, als gäbe es ihn nicht. Das ist das Rezept, an das sich die meisten Menschen halten. Die zweite Art ist das Gegenteil: memento mori, gedenke des Todes. Behalte ihn ständig im Sinn, denn nie kann man das Leben mehr auskosten als in dem Glauben, dass heute der letzte Tag ist. Der dritte Weg ist Akzeptanz. Ein Mensch, der sich mit dem Tod abfindet – wirklich abfindet –, fürchtet nichts und begegnet jedem Verlust mit transzendentem Gleichmut. Alle drei Strategien haben dabei etwas miteinander gemein: Sie sind Lügen. Angst wäre zumindest ehrlich.
    Doch es gibt noch einen anderen, vierten Weg. Es ist die unstatthafte Möglichkeit, von der kein Mensch sprechen kann, nicht einmal zu sich selbst in der Verborgenheit seines inneren Monologs. Dieser Weg erfordert kein Vergessen, kein Lügen, kein Kriechen vor dem Altar des Unvermeidlichen. Alles, was er verlangt, ist ein Trieb.
     
    S chlag zwölf Uhr am 16. September 1920 setzten dröhnend die Glocken der Trinity Church ein, und wie von einer einzigen Feder bewegt, flogen überall an der Wall
Street Türen auf, aus denen Angestellte und Botenjungen, Sekretärinnen und Stenografinnen strömten, um ihre kostbare Mittagsstunde zu genießen. Auf der Straße brandeten sie um Automobile, stellten sich vor ihren Lieblingsgeschäften an und hatten im Nu die belebte Kreuzung von Wall Street, Nassau Street und Broadway bevölkert, die in der Finanzwelt die Bezeichnung Corner trug – schlicht und einfach Corner. Dort stand die Treasury, das Schatzamt der Vereinigten Staaten, mit ihrer griechischen Tempelfassade, behütet von einem majestätischen George Washington aus Bronze. Dort stand auch die New Yorker Börse mit ihren weißen Säulen, Seite an Seite mit der Kuppelfestung der J.P. Morgan Bank.
    Vor dieser Bank scharrte eine alte braune Mähre auf dem Kopfsteinpflaster. Sie war vor einen schwer beladenen, mit Sackleinen bedeckten Karren gespannt, der führerlos den Verkehr behinderte. Dahinter ertönte aufgebrachtes Hupen. Ein stämmiger Taxichauffeur stieg aus seinem Wagen, die Arme in rechtschaffenem Unmut erhoben. Doch statt einen Kutscher vorzufinden, nahm er erstaunt ein merkwürdiges Geräusch wahr, das gedämpft aus dem Karren drang. Er legte das Ohr an die Plane und hörte unverkennbar ... ein Ticken.
    Die Kirchenglocken schlugen zwölf. Der letzte mächtige Ton war noch nicht verklungen, als der neugierige Taxifahrer einen Zipfel des mottenzerfressenen Sackleinens wegzog und sah, was darunter verborgen lag. In diesem Augenblick wussten in dem Gedränge Tausender nur vier Menschen, dass der Tod über der Wall Street hing: der Chauffeur, eine rothaarige Frau in seiner Nähe, der fehlende Kutscher des Pferdekarrens und Stratham Younger, der in fünfzig Metern
Entfernung einen Police Detective und eine junge Französin hinunter auf die Knie riss.
    »Gott steh uns bei«, flüsterte der Taxifahrer.
    Dann explodierte die Wall Street.
     
    Z wei Frauen, die früher eng miteinander befreundet waren und sich nach Jahren wiederbegegnen, werden sich bestimmt mit einem überraschten Aufschrei in die Arme fallen und sogleich anfangen, sich in möglichst anschaulichen Farben alle Ereignisse ihres Lebens zu erzählen, die die jeweils andere verpasst hat. Zwei Männer haben sich unter den gleichen Umstände gar nichts zu sagen.
    Um elf Uhr dieses Vormittags, eine Stunde vor der Explosion, schüttelten sich Younger und Jimmy Littlemore am Madison Square die Hand, drei Kilometer nördlich von der Wall Street. Der Tag war für die Jahreszeit ungewöhnlich schön, der Himmel kristallklar. Younger nahm eine Zigarette heraus.
    »Schon eine Weile her, Doc«, bemerkte Littlemore.
    Younger zündete ein Streichholz an und hielt es an die Zigarette.
    Beide Männer waren über fünfunddreißig, aber ansonsten recht verschieden. Littlemore, ein Detective der New Yorker Polizei, war eine Gestalt, die sich leicht in jede Umgebung einfügte. Größe, Gewicht, Haarfarbe, alles an ihm war durchschnittlich, sogar die Gesichtszüge, eine Mischung aus amerikanischer Offenheit und guter Gesundheit. Younger dagegen war imposant. Er war groß, bewegte sich selbstsicher, seine Haut war leicht wettergegerbt, und sein attraktives Gesicht wies kleine Unvollkommenheiten
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