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Friesenherz

Friesenherz

Titel: Friesenherz
Autoren: Janna Hagedorn
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mich selbst plötzlich gefühlt hatte wie ein Baby, das in ein Tuch gehüllt und hochgehoben wurde. Diese Frauenstimme an meinem Ohr. Dieser Jemand oder dieses Etwas, das mich gerettet hatte.
    »Du hast übrigens ganz schön komisches Zeug erzählt«, sagte Ann. »Ganz zum Schluss, als wir schon auf der Treppe hier waren und ich dich mehr geschoben und gezogen habe, als dass du selbst gegangen wärst. ›Mama‹, hast du gesagt, und deine Stimme hat ganz anders geklungen als sonst.«
    Ich nickte und schwieg. Ich dachte an die Frau mit dem roten Rock, die Herrscherin über die Tiefe, und die Wärme, mit der sie mich auf den Arm genommen hatte. Dass sie mich noch nicht bei sich hatte haben wollen, sondern zurückgeschickt hatte zu den Lebenden.
    Und ich traute der Frau einiges zu. Wenn sie mich gerettet hatte, musste es einen Grund geben. Offensichtlich gab es in meinem Leben doch noch mehr zu tun, als auf Enkel zu warten oder meinen ersten Rollator. Egal, ob alleine oder mit einem Mann. Meinem Mann. Oder einem anderen. Jedenfalls war es Zeit, Pläne zu schmieden. Ich würde die Frau mit dem roten Rock nicht enttäuschen. Das wusste ich.
    Ann streckte sich der Länge nach auf dem Holz aus. Dann legte sie die Hände auf ihren Bauch.
    »So könnt’s bleiben«, sagte sie, »wenn es nach mir geht, müssen die sich gar nicht so beeilen, uns zu holen.«
    »Na, so komfortabel ist es aber auch wieder nicht«, meckerte ich.
    »Nö«, sagte sie, »aber fast so gut wie ein Leuchtturm. Hoch über dem Meer, mit super Überblick.«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich leise. »Ich glaube, mir wäre eine Dachterrasse lieber.«
    »Hast du denn keine Terrasse zu Hause?«
    »Ich meine nicht zu Hause.«
    Ich wollte noch etwas sagen, aber Ann unterbrach mich mit einer Geste und zeigte in Richtung Küste. Nun sah ich es auch: Aus Richtung Boldsum näherte sich ein seltsames Gefährt über das Watt. Es sah ein wenig aus wie ein Legoboot auf Rädern, die Art von Vehikeln, die Torge früher mit Ronja gebaut hatte. Sogar das Rot, in dem der Rumpf gestrichen war, und das Rot der Felgen, auf denen die sechs Räder aufgezogen waren, erinnerten mich an die Bausteinchen aus der Legokiste.
    Als das seltsame Gefährt näher kam, konnte ich hinter der Scheibe schemenhaft zwei Männer erkennen, einen am Steuer, einen in einer Rettungssanitäteruniform.
    Das konnte doch nicht …
    Das Rettungsboot mit dem fahrbaren Untersatz hielt unterhalb unserer Rettungsbake, und als sich der Uniformierte aus der Luke lehnte, schwand meine letzte Hoffnung. Meine letzte Hoffnung, dass nicht ausgerechnet er es war, der mich hier auflesen würde.
    »Scheiße«, schrie Jan von unten hoch, »was macht ihr denn für einen Scheiß?«
    Ann und ich wechselten einen Blick.
    »Der sollte mal über seine Wortwahl nachdenken«, sagte sie trocken.
    »Das kommt noch«, seufzte ich. »Wenn er erwachsen ist.«
    Ein paar Augenblicke später tauchte Jans Kopf über unserer Plattform auf, und er sah mich mit einer schwer zu deutenden Mischung aus Bewunderung und Verachtung an.
    »Und das mir!«, sagte er. »Wozu rede ich mir eigentlich beim Wattwandern den Mund fusselig, wenn ihr dann kopflos losrennt, mitten in der Nacht?«
    »Mütter sind so«, sagte Ann kryptisch, stand auf und machte Anstalten, mich ebenfalls hochzuziehen.
    »Nein, warte.« Ein Schmerz durchzuckte mich von den Zehen bis zur Schulter. »Mein Knöchel! Ich kann nicht auftreten!«
    Jan seufzte. »Kein Problem«, sagte er, »ich stütz dich auf der Leiter.« Dann hielt er mir seine Hand hin.
    Komischerweise fiel es mir erst in diesem Moment auf. Wir hatten geknutscht wie die Weltmeister, aber niemals Händchen gehalten. Wahrscheinlich hätte ich daran schon sofort merken müssen, dass die Geschichte zwischen uns keine Zukunft hatte.
    »Außerdem hab ich kaum was an!«, rief ich. Die kratzige Wolldecke war an mir heruntergerutscht und gab den Blick auf mei nen geblümten Schlüpfer frei. Die nasse Hose hing noch zum Trocknen über dem Holzgestänge.
    »Egal«, sagte Jan cool. »Ich kenn dich ja ganz gut.«
    Und schon hatte er mich energisch um die Hüfte gepackt und hielt mich beim Heruntersteigen so fest, dass ich kaum atmen konnte. Eine kleine Welle Jan-Geruch brandete mich an, und ich musste mich konzentrieren. Wie stark das sein konnte, nach allem, was passiert war. Auch wenn ich gerade erst gerettet wurde, auch wenn ich noch immer nicht wusste, wo meine Tochter war – all das hielt mich nicht davon ab, für einen
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