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Friesenherz

Friesenherz

Titel: Friesenherz
Autoren: Janna Hagedorn
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»Maike«, sagte sie, »ich weiß jetzt, dass ich das kann. Dass ich es schaffe mit einem Kind.«
    Ich seufzte. »Wenn du dir da mal keine falschen Vorstellungen machst.«
    Sie sah mich skeptisch von der Seite an, und ich beeilte mich zu sagen: »Versteh mich nicht falsch, ich bin froh, dass du es behalten möchtest. Ich sag dir nur eines: Was Angst ist, richtige Angst, das lernst du überhaupt erst, wenn du Kinder hast.«
    Vorsichtig zog ich das verletzte Bein an mich und umfasste es. Das Pochen verwandelte sich langsam in einen dumpfen und permanenten Schmerz. Der Knöchel war fast auf seine doppelte Dicke angeschwollen.
    »Und wenn schon.« Sie sah mich mit unerschütterlicher Ruhe an. »Dann ist das eben auch wieder ein Schritt mehr auf dem Weg, dass ich um mein Kind Angst habe. Und die Angst auch wieder überwinden kann.«
    »Bist du denn sicher …«, begann ich und warf einen Blick auf Anns flachen Bauch, »ich meine, diese Höllentour, die Kälte, und dann hast du mich auch noch getragen …«
    Ann legte mir sanft eine Hand auf die Schulter. »Mach dir keine Sorgen«, sagte sie, »das ist gut gegangen, das fühle ich. Und weißt du was? Vorhin, als wir in der Hütte standen und uns umzogen – da hatte ich auf einmal zum ersten Mal das Gefühl, als würde ich das Baby spüren. Ich weiß, das ist eigentlich zu früh, aber es war, als würde ein winzig kleiner Fisch dort drinnen Saltos schlagen.«
    »Das Schlimme ist«, sagte ich, »man kann seine Kinder nicht behüten. Nicht wirklich. Das ist das Schöne am Schwangersein, da weißt du wenigstens, wo dein Baby ist, und spürst, wie es sich bewegt. Und kaum vergehen ein paar Jahre, da ahnst du nicht einmal, wo sich dein Kind herumtreibt, und kannst nur hoffen, dass es ihm gut geht, und bist froh über jedes Lebenszeichen. Und sei es nur ein Handy-Anruf mitten im Watt, wenn die Funkverbindung sofort zusammenbricht.« Ich schloss die Augen und dachte an Ronja. Wo auch immer sie war, sie war am Leben. Sie hatte versucht, mich zu erreichen.
    »Vielleicht kann man seine Kinder wirklich nicht behüten«, sagte Ann träumerisch. »Aber man kann sich selbst behüten. Und das ist das Beste, was man für sie tun kann.«
    Ich wollte gerade ansetzen zu einem großen Monolog über Opfer und Selbstlosigkeit, aber Ann brachte mich mit einem seltsamen Blick zum Schweigen.
    »Weißt du«, sagte sie, »meine Mutter war so. Die konnte ganz gut auf mich aufpassen, als ich klein war. Aber auf sich selbst achten, das hat sie nicht geschafft. Nachdem mein Vater sie verlassen hatte, ist sie völlig zusammengebrochen. Hat irgendetwas gesucht, an dem sie sich festhalten kann. Erst war das so eine komische Psycho-Sekte, mit einem Guru, der behauptet hat, man müsse bestimmte Kristalle ins Trinkwasser legen, und ständig vor krebs erregenden Erdstrahlen gewarnt hat. Dann war es Sherry um zwölf Uhr mittags. Aber vor allem hat sie an mir geklammert. Ich sollte ihr ständig beweisen, dass sie nicht versagt hatte, weder als Mutter noch als Mensch. Als ich mit achtzehn von zu Hause ausgezogen bin, habe ich mir vorgenommen, niemals Kinder zu bekommen. Weil ich Angst hatte, ich könnte ihnen irgendwann etwas Ähnliches antun.«
    »Und wie geht es deiner Mutter jetzt?«, fragte ich.
    Ann schaufelte ihre schweren Rastalocken aus ihrem Gesicht.
    »Sie ist vor zwei Monaten gestorben.«
    Ich nickte. Zuerst wollte ich etwas sagen, eine Beileidsbezeugung oder etwas Mitfühlendes, aber dann war es etwas ganz anderes, das aus meinem Mund kam.
    »Du bist frei«, sagte ich.
    »Als ich klein war«, sagte Ann und wischte sich flüchtig eine Träne aus dem Augenwinkel, »da war es schön mit ihr. Ich weiß noch genau, wenn ich gebadet hatte, dann hat sie mich immer in ein großes, weißes Handtuch gehüllt und ein bunt gemustertes Handtuch vor die Wanne gelegt, auf dem ich Fußspuren machen konnte. Am Anfang waren meine Füße so klein wie die Seepferdchen darauf. Später wie die Fische.«
    »Weißt du was?«, sagte ich und legte eine Hand auf ihre. »Ich glaube, du wirst eine gute Mutter sein.«
    »Wirklich?« Sie versuchte zu lächeln.
    »Letzte Nacht im Watt, da hast du alles richtig gemacht. Ohne dich wäre ich da draußen verrückt geworden, glaube ich. Aber deine ganzen Geschichten von Leuchttürmen, einfach drauflosreden – so funktioniert das auch mit Kindern. Erzählen gegen die Angst.«
    In dem Moment war die Erinnerung wieder da. Die Erinnerung an heute Nacht und jenen seltsamen Moment, in dem ich
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