Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Friesenherz

Friesenherz

Titel: Friesenherz
Autoren: Janna Hagedorn
Vom Netzwerk:
Zehen bekam und dem es überhaupt nichts ausmachte, umschlossen von Wasser zu sein, und dann dachte ich auch noch daran, dass der Salzgehalt im menschlichen Körper dem Salzgehalt der Ozeane entsprach, weil alles Leben aus dem Meer kam, und da war eine Hand, die an mir zerrte, eine Stimme, die wieder etwas rief, und dann war da plötzlich noch jemand.
    Oder etwas.
    Eine Stimme. Eine ganz alte Frauenstimme, die ein tiefes Lachen lachte, ein gutmütiges Lachen, ein liebevolles Lachen. Eine Stimme, die so klang, als hätte die Person schon alles gesehen und alles erlebt, was man erleben konnte. Und als hätte sie die Men schen trotzdem noch gern. Ein paar Hände, die ich auf einmal über all und nirgends gleichzeitig spürte, Hände wie die einer Mutter, Hände, die trösten konnten und halten und zur Not auch Kühe beruhigen, die im Winter auf überfluteten Inselwiesen standen.
    Auf einmal war ich ganz klein und wurde gehoben, höher und höher, und es wurde wärmer, und wieder rief Ann etwas, und wieder verstand ich es nicht, und dann blickte ich nach oben, und ich wusste, irgendwo über dem Nebel gab es einen Mond.

30
    Die Sonne wirkte blass und ein wenig übermüdet, aber pflicht bewusst. Sie ging auch an diesem Herbstmorgen auf, einfach, weil sie keine Wahl hatte, weil sie für ihre Kinder sorgen musste. Und weil sie vielleicht ahnte, dass die Batterie in der Taschenlampe, die wir in dem Häuschen der Rettungsbake gefunden hatte, nicht mehr besonders lange durchhalten würde.
    Ann und ich saßen gemeinsam auf dem Boden der Plattform und sahen der Sonne beim Aufgehen zu. Ann trug einen der Jogging anzüge, die wir in der Schutzhütte gefunden hatten. Ich hatte in den zweiten nicht hineingepasst. Offensichtlich ging man beim Küsten schutz davon aus, dass Frauen über Konfektionsgröße 36 nicht so leichtsinnig sein könnten, um jemals diese hölzerne Rettungsinsel in Anspruch nehmen zu müssen. Gott sei Dank gab es dort auch ein funktionierendes Funkgerät, eine Packung krümeliger Kekse, zwei Flaschen Wasser und auch noch einen großzügigen Stapel krat ziger Decken. Mehrfach eingemummelt ließ es sich gut aushalten.
    Unter uns glänzte das Watt im Morgenlicht, doch allmählich begannen sich die Priele schon wieder zu füllen. Das Niedrig wasser vom frühen Morgen war vorbei. Diesmal hätten wir es zu Fuß locker zurückschaffen können auf die Insel. Aber nicht mit meinem verletzten Fuß.
    »So langsam müssten die doch eigentlich mal kommen«, be schwerte ich mich und blickte in Richtung Boldsum. Schemenhaft erhob sich die Inselküste über der glitzernden Fläche, im Dunst flirrte der Leuchtturm von Süderhörn.
    »Vielleicht ist es eine pädagogische Maßnahme«, sagte Ann und kicherte. »Die wollen uns für unseren Leichtsinn bestrafen.«
    Ich schüttelte ärgerlich den Kopf. »Das ist ja wohl nicht Aufgabe des Rettungsdienstes.«
    »Was haben die eigentlich gesagt?«, erkundigte sich Ann. »Dieses olle Funkgerät hat so geknarzt, dass ich gar nicht kapiert habe, wie die uns hier abholen wollen. Mit dem Hubschrauber?«
    »Hör mir bloß auf!« Allein das Wort Hubschrauber ließ das Pochen in meinem Knöchel in Sekunden noch mehr anschwellen. »Ich bin doch nicht James Bond«, sagte ich weinerlich, »was soll ich denn machen, wenn die hier eine Strickleiter runterlassen und ich daran hochklettern muss, mit meinem kaputten Fuß?«
    »Abwarten«, sagte Ann und hielt ihr Gesicht in die kühle Morgensonne.
    »Du bist lustig«, meckerte ich, »du hast dir schließlich auch nicht den Knöchel verstaucht.«
    Ann sah mich lange an, dann blickte sie einer Möwe nach, die aufgeregt kreischend im Tiefflug unterwegs war. Schließlich zuckte sie fast unmerklich die Schultern.
    »Weißt du, ich habe mir schon um alles Mögliche Sorgen gemacht im Leben, bis zu dieser Nacht. Aber jetzt, in diesem Moment, weiß ich eines ganz genau: Ich werde mir nie wieder Sorgen machen um Dinge, die eventuell irgendwann mal passieren könnten. Weil … als wir da so mitten im Watt standen, und es war eisig und neblig und roch nach Tod, und ich streck die Hand aus, und dann ist da das Holz, die Leiter, und ich zieh dich einfach mit mir – da hab ich es gewusst.«
    »Was gewusst?«, fragte ich verdattert.
    »Dass ich mich vor nichts mehr fürchten muss. Dass ich im Leben einfach einen Schritt nach dem anderen gehen kann und irgendwo ankomme, wo es mir gut geht. Und dass ich dabei sogar noch jemand mitnehmen kann.«
    Endlich sah sie mich an.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher